Sie dreht sich wortlos um und geht in die Halle. Ich sehe die Schwester mit ihr die Treppe hinaufsteigen und habe plötzlich das Gefühl, etwas, das man nur einmal im Leben findet, unwiederbringlich verloren zu haben.
Verwirrt stehe ich herum. Was hätte ich schon tun können? Und wie bin ich in all dieses wieder hineingeraten? Ich wollte es doch nicht! Dieser verfluchte Regen!
Langsam gehe ich dem Haupthause zu. Wernicke kommt im weißen Mantel mit einem Regenschirm heraus.»Haben Sie Fräulein Terhoven abgeliefert?«
»Ja.«
»Gut. Kümmern Sie sich doch weiter etwas um sie. Besuchen Sie sie auch einmal tagsüber, wenn Sie Zeit haben.«
»Warum?«
»Darauf kriegen Sie keine Antwort«, erwidert Wernicke.»Aber sie ist ruhig, wenn sie mit Ihnen zusammen war. Es ist gut für sie. Genügt das?«
»Sie hält mich für jemand anders.«
»Das macht nichts. Mir kommt es nicht auf Sie an – nur auf meine Kranken.«Wernicke blinzelt durch die Sprühnässe.»Bodendiek hat Sie heute abend gelobt.«
»Was? – Dazu hatte er wahrhaftig keinen Grund!«
»Er behauptet, Sie seien auf dem Weg zurück. Zum Beichtstuhl und zur Kommunion.«
»So etwas!«erkläre ich, ehrlich entrüstet.
»Verkennen Sie die Weisheit der Kirche nicht! Sie ist die einzige Diktatur, die seit zweitausend Jahren nicht gestürzt worden ist.«
Ich gehe zur Stadt hinunter. Nebel weht seine grauen Fahnen durch den Regen. Isabelle geistert durch meine Gedanken. Ich habe sie im Stich gelassen; das ist es, was sie jetzt glaubt, ich weiß es. Ich sollte überhaupt nicht mehr hinaufgehen, denke ich. Es verwirrt mich nur, und ich bin ohnehin verwirrt genug. Aber was wäre, wenn sie nicht mehr da wäre? Würde es nicht so sein, als fehle mir das Wichtigste, das, was nie alt und verbraucht und alltäglich werden kann, weil man es nie besitzt?
Ich komme zum Hause des Schuhmachermeisters Karl Brill. Aus der Schuhbesohlanstalt dringen die Klänge eines Grammophons. Ich bin heute abend hier zu einem Herrenabend eingeladen. Es ist einer der berühmten Abende, an denen Frau Beckmann ihre akrobatische Kunst zum besten gibt. Ich zögere einen Augenblick – ich fühle mich wahrhaftig nicht danach -, aber dann trete ich ein. Gerade deshalb.
Ein Schwall von Tabaksrauch und Biergeruch empfängt mich. Karl Brill steht auf und umarmt mich, leicht schwankend. Er hat einen ebenso kahlen Kopf wie Georg Kroll, aber er trägt dafür alle seine Haare unter der Nase in einem mächtigen Walroßschnurrbart.»Sie kommen zur rechten Zeit«, erklärt er.»Die Wetten sind gelegt. Wir brauchen nur bessere Musik als dieses dumme Grammophon! Wie wäre es mit dem Donauwellenwalzer?«
»Gemacht!«
Das Klavier ist bereits in die Schnellbesohlanstalt geschafft worden. Es steht vor den Maschinen. Im vorderen Teil des Raumes sind die Schuhe und das Leder beiseite geschoben worden, und überall, wo es geht, sind Stühle und ein paar Sessel verteilt. Ein Faß Bier ist aufgelegt, und ein paar Flaschen Schnaps sind schon leer. Eine zweite Batterie steht auf dem Ladentisch. Auf dem Tisch liegt auch ein großer, mit Watte umwickelter Nagel neben einem kräftigen Schusterhammer.
Ich schmettere den Donauwellenwalzer herunter. Im Qualm schwanken die Bundesbrüder von Karl Brill umher. Sie sind bereits gut geladen. Karl stellt ein Glas Bier und einen doppelten Steinhäger Schnaps auf das Klavier.
»Klara bereitet sich vor«, sagt er.»Wir haben über drei Millionen in Wetten zusammen. Hoffentlich ist sie in Höchstform; sonst bin ich halb bankrott.«
Er blinzelt mir zu.»Spielen Sie etwas sehr Schmissiges, wenn es soweit ist. Das facht sie immer mächtig an. Sie ist ja verrückt mit Musik.«
»Ich werde den „Einzug der Gladiatoren“ spielen. Aber wie wäre es mit einer kleinen Seitenwette für mich?«
Karl blickt auf.»Lieber Herr Bodmer«, sagt er verletzt.
»Sie wollen doch nicht gegen Klara wetten! Wie können Sie dann überzeugend spielen?«
»Nicht gegen sie. Mit ihr. Eine Seitenwette.«
»Wieviel?«fragt Karl rasch.
»Lumpige achtzigtausend«, erwidere ich.»Es ist mein ganzes Vermögen.«
Karl überlegt einen Augenblick. Dann dreht er sich um.
»Ist noch jemand da, der achtzigtausend wetten will? Gegen unseren Klavierspieler?«
»Ich!«Ein dicker Mann tritt vor, holt Geld aus einem kleinen Köfferchen und knallt es auf den Ladentisch.
Ich lege mein Geld daneben.»Der Gott der Diebe beschütze mich«, sage ich.»Sonst bin ich morgen aufs Mittagessen allein angewiesen.«
»Also los!«sagt Karl Brill.
Der Nagel wird herumgezeigt. Dann tritt Karl an die Wand, setzt ihn in der Höhe eines menschlichen Gesäßes an und schlägt ihn zu einem Drittel ein. Er schlägt weniger stark, als seine Gebärden es vermuten lassen.
»Sitzt gut und fest«, sagt er und tut, als rüttele er kräftig an dem Nagel.
»Das werden wir erst einmal prüfen.«
Der Dicke, der gegen mich gewettet hat, tritt vor. Er bewegt den Nagel und grinst.»Karl«, sagt er hohnlachend.»Den blase ich ja aus der Wand. Gib mal den Hammer her.«
»Blase ihn erst aus der Wand.«