Die weißen Spiralen des Weihrauches wirbeln. Bodendiek stellt die Monstranz zurück in das Tabernakel. Das Licht der Kerzen flackert über den Brokat seines Meßgewandes, auf das ein großes Kreuz gestickt ist, und weht aufwärts mit dem Rauch zu dem großen Kreuz, an dem blutüberströmt seit fast zweitausend Jahren der Heiland hängt. Ich spiele mechanisch weiter und denke an Isabelle und das, was sie gesagt hat, und dann an die Beschreibung der vorchristlichen Religionen, die ich gestern abend gelesen habe. Die Götter waren damals heiter in Griechenland, sie wandelten von Wolke zu Wolke, sie waren leicht schurkisch und immer treulos und wandelbar wie die Menschen, zu denen sie gehörten. Sie waren Verkörperungen und Übertreibungen des Lebens in seiner Fülle und Grausamkeit und Unbedenklichkeit und Schönheit. Isabelle hat recht: Der bleiche Mann über mir mit dem Bart und den blutigen Gliedern ist es nicht. Zweitausend Jahre, denke ich, zweitausend Jahre, und immer ist das Leben mit Lichtern, Brunstschreien, Tod und Verzückung um die Steinbauten gewirbelt, in denen die Abbilder des blassen Sterbenden aufgerichtet waren, düster, blutig, von Millionen von Bodendieks umgeben – und bleifarben ist der Schatten der Kirchen über den Ländern gewachsen und hat die Lebensfreude erdrosselt, er hat aus Eros, dem heiteren, eine heimliche, schmutzige, sündhafte Bettgeschichte gemacht und nichts vergeben, trotz aller Predigten über Liebe und Vergebung – denn wirklich vergeben heißt, den anderen zu bestätigen, wie er ist, nicht aber Buße zu verlangen und Gefolgschaft und Unterwerfung, bevor das
Isabelle hat draußen gewartet. Wernicke hat ihr erlaubt, daß sie abends im Garten sein darf, wenn jemand bei ihr ist.»Was hast du drinnen getan?«fragt sie feindlich.»Mitgeholfen, alles zuzudecken?«
»Ich habe Musik gemacht.«
»Musik deckt auch zu. Mehr als Worte.«
»Es gibt auch Musik, die aufreißt«, sage ich.»Musik von Trommeln und Trompeten. Sie hat viel Unglück in die Welt gebracht.«
Isabelle dreht sich um.»Und dein Herz? Ist es nicht auch eine Trommel?«
Ja, denke ich, eine langsame und leise, aber es wird trotzdem genug Lärm machen und genug Unglück bringen, und vielleicht werde auch ich darüber den süßen, anonymen Ruf des Lebens überhören, der denen geblieben ist, die kein pomphaftes Selbst dem Leben gegenübersetzen und keine Erklärungen fordern, als wären sie rechthaberische Gläubiger und nicht flüchtige Wanderer ohne Spur.
»Fühle meines«, sagt Isabelle und nimmt meine Hand und legt sie auf ihre dünne Bluse, unter die Brust.»Fühlst du es?«
»Ja, Isabelle.«
Ich ziehe meine Hand weg, aber es ist, als hätte ich sie nicht weggezogen. Wir gehen um eine kleine Fontäne herum, die im Abend plätschert, als sei sie vergessen worden. Isabelle taucht ihre Hände in das Becken und wirft das Wasser hoch.»Wo bleiben die Träume am Tag, Rudolf?«fragt sie.
Ich sehe ihr zu.»Vielleicht schlafen sie«, sage ich vorsichtig, denn ich weiß, wohin solche Fragen bei ihr führen können. Sie taucht ihre Arme in das Becken und läßt sie liegen. Sie schimmern silbern, mit kleinen Luftperlen besetzt, unter dem Wasser, als wären sie aus einem fremden Metall.»Wie können sie schlafen?«sagt sie.»Sie sind doch lebendiger Schlaf. Man sieht sie nur, wenn man schläft. Aber wo bleiben sie am Tage?«
»Vielleicht hängen sie wie Fledermäuse in großen unterirdischen Höhlen – oder wie junge Eulen in tiefen Baumlöchern und warten auf die Nacht.«
»Und wenn keine Nacht kommt?«
»Nacht kommt immer, Isabelle.«
»Bist du sicher?«
Ich sehe sie an.»Du fragst wie ein Kind«, sage ich.
»Wie fragen Kinder?«
»So wie du. Sie fragen immer weiter. Und sie kommen bald zu einem Punkt, wo die Erwachsenen keine Antwort mehr wissen und verlegen oder ärgerlich werden.«
»Warum werden sie ärgerlich?«
»Weil sie plötzlich merken, daß etwas mit ihnen entsetzlich falsch ist und weil sie nicht daran erinnert werden wollen.«
»Ist bei dir auch etwas falsch?«
»Beinahe alles, Isabelle.«
»Was ist falsch?«
»Das weiß ich nicht. Darin liegt es gerade. Wenn man es wüßte, wäre es schon nicht mehr so falsch. Man fühlt es nur.«
»Ach, Rudolf«, sagt Isabelle, und ihre Stimme ist plötzlich tief und weich.»Nichts ist falsch.«
»Nein?«
»Natürlich nicht. Falsch und Richtig weiß nur Gott. Wenn er aber Gott ist, gibt es kein Falsch und Richtig. Alles ist Gott. Falsch wäre es nur, wenn es außer ihm wäre. Wenn aber etwas außer oder gegen ihn sein könnte, wäre er nur ein beschränkter Gott. Und ein beschränkter Gott ist kein Gott. Also ist alles richtig, oder es gibt keinen Gott. So einfach ist das.«
Ich sehe sie überrascht an. Was sie sagt, klingt tatsächlich einfach und einleuchtend.»Dann gäbe es auch keinen Teufel und keine Hölle?«sage ich.»Oder wenn es sie gäbe, gäbe es keinen Gott.«
Isabelle nickt.»Natürlich nicht, Rudolf. Wir haben so viele Worte. Wer hat die nur alle erfunden?«
»Verwirrte Menschen«, erwidere ich.