Читаем Liebe Deinen Nächsten полностью

Er stand in seinem weißen Unterzeug wie ein müdes, freundliches Gespenst im halbdunklen Zimmer und sprach die Verse des Wiegenliedes langsam, mit monotoner Stimme vor sich hin, die erloschenen Augen in die Nacht vor dem Fenster gerichtet.

»Es beruhigt mich«, wiederholte er dann und lächelte. »Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es beruhigt mich.«

»Kann sein«, sagte Kern.

»Es klingt verrückt, aber es beruhigt mich wirklich. Ich fühle mich dann still und als wäre ich irgendwo zu Hause.«

Kern wurde unbehaglich zumute. Er spürte etwas wie eine Gänsehaut. »Ich kann keine Gedichte auswendig«, sagte er. »Ich habe alles vergessen. Mir ist, als wäre es eine Ewigkeit her, seit ich in der Schule war.«

»Ich wußte es auch nicht mehr. Aber jetzt auf einmal kann ich mich an alles erinnern.«

Kern nickte. Dann stand er auf. Er wollte aus dem Zimmer ’raus. Rabe konnte dann schlafen, und er brauchte nicht mehr an ihn zu denken.

»Wenn man nur wüßte, was man abends machen soll!« sagte er. »Abends, das ist immer das Verfluchte. Zu lesen habe ich schon lange nichts mehr. Und unten zu sitzen und zum hundertsten Male darüber zu reden, wie schön es in Deutschland war, und wann es wohl anders werden wird, dazu habe ich auch keine Lust.«

Rabe setzte sich auf sein Bett. »Gehen Sie ins Kino. Das ist das beste, um einen Abend ’rumzukriegen. Man weiß nachher nicht mehr, was man gesehen hat; aber man hat wenigstens an nichts gedacht.«

Er zog die Strümpfe aus. Kern sah ihm nachdenklich zu. »Kino«, sagte er. Ihm fiel ein, daß er vielleicht das Mädchen von nebenan dazu einladen könnte. »Kennen Sie die Leute hier im Hotel?« fragte er.

Rabe legte die Strümpfe auf einen Stuhl und bewegte seine nackten Zehen. »Ein paar. Warum?« Er blickte seine Zehen an, als hätte er sie noch nie gesehen.

»Hier nebenan die?«

Rabe dachte nach. »Da wohnt die alte Schimanowska. Sie war vor dem Kriege eine berühmte Schauspielerin.«

»Die meine ich nicht.«

»Er meint Ruth Holland, ein junges, hübsches Mädchen«, sagte der Mann mit der Brille, der als dritter im Zimmer wohnte. Er hatte schon eine Weile in der Tür gestanden und zugehört. Er hieß Marill und war ehemaliger Reichstagsabgeordneter. »Nicht wahr, Kern, Don Juan, so ist es doch?«

Kern errötete.

»Sonderbar«, fuhr Marill fort. »Bei den natürlichsten Sachen errötet der Mensch. Bei den gemeinen nie. Wie war das Geschäft heute, Kern?«

»Eine glatte Katastrophe. Ich habe bares Geld verloren.«

»Dann geben Sie noch was dazu. Das ist das beste Mittel, keine Komplexe zu bekommen.«

»Ich bin gerade dabei«, sagte Kern. »Ich will ins Kino gehen.«

»Bravo. Mit Ruth Holland, nehme ich an, nach Ihrer vorsichtigen Fragerei.«

»Ich weiß nicht. Ich kenne sie ja nicht.«

»Man kennt die meisten Menschen nicht. Irgendwann muß man einmal damit anfangen. Immer los, Kern. Mut ist der schönste Schmuck der Jugend.«

»Glauben Sie, daß sie mitgehen wird?«

»Natürlich. Das ist einer der Vorteile unseres beschissenen Lebens. Zwischen Angst und Langerweile ist jeder dankbar, wenn man ihn ablenkt. Also keine falsche Scham! Losgebraust und nicht gezittert!«

»Gehen Sie ins Rialto«, sagte Rabe aus seinem Bett heraus. »Da spielen sie Marokko. Ich habe gefunden, je fremder die Länder sind, desto besser wird man abgelenkt.«

»Marokko ist immer gut«, erklärte Marill. »Auch für junge Mädchen.«

Rabe packte sich seufzend in seine Decke. »Manchmal wollte ich, ich könnte zehn Jahre durchschlafen!«

»Möchten Sie dann auch zehn Jahre älter sein?« fragte Marill.

Rabe sah ihn an. »Nein«, sagte er. »Dann wären meine Kinder ja schon erwachsen.«


KERN KLOPFTE AN die Tür nebenan. Eine Stimme von drinnen antwortete etwas. Er öffnete die Tür und blieb sofort stehen. Er hatte der Schimanowska ins Auge geblickt.

Sie hatte ein Gesicht wie eine Schleiereule. Die wulstigen Falten waren dicht mit weißem Puder überdeckt und wirkten wie eine gebirgige Schneelandschaft. Tief darin, wie Löcher, saßen die schwarzen Augen. Sie starrte Kern an, als wollte sie ihm im nächsten Auenblick mit ihren Krallen ins Gesicht fliegen. In den Händen hielt sie einen zinnoberroten Schal, in dem ein paar Stricknadeln steckten. Plötzlich verzerrte sich ihr Gesicht. Kern dachte schon, sie würde auf ihn losstürzen, aber auf einmal glitt eine Art von Lächeln über ihre Züge. »Was wollen Sie, mein junger Freund?« fragte sie mit pathetischer, tiefer Theaterstimme.

»Ich möchte mit Fräulein Holland sprechen.« Das Lächeln verschwand wie weggewischt. »Ach so.« Die Schimanowska blickte Kern verächtlich an und begann, heftig mit ihren Nadeln zu klappern.

Ruth Holland hockte auf ihrem Bett. Sie hatte gelesen. Kern sah, daß es das Bett war, an dem er nachts gestanden hatte. Er fühlte plötzlich eine Wärme hinter seiner Stirn. »Kann ich Sie etwas fragen?« sagte er.

Das Mädchen stand auf und ging mit ihm auf den Korridor. Die Schimanowska ließ ihnen ein Schnauben wie von einem verwundeten Pferd folgen.

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie mit ins Kino wollen«, sagte Kern draußen. »Ich habe zwei Karten«, log er hinzu.

Ruth Holland sah ihn an.

Перейти на страницу:

Похожие книги

Отверженные
Отверженные

Великий французский писатель Виктор Гюго — один из самых ярких представителей прогрессивно-романтической литературы XIX века. Вот уже более ста лет во всем мире зачитываются его блестящими романами, со сцен театров не сходят его драмы. В данном томе представлен один из лучших романов Гюго — «Отверженные». Это громадная эпопея, представляющая целую энциклопедию французской жизни начала XIX века. Сюжет романа чрезвычайно увлекателен, судьбы его героев удивительно связаны между собой неожиданными и таинственными узами. Его основная идея — это путь от зла к добру, моральное совершенствование как средство преобразования жизни.Перевод под редакцией Анатолия Корнелиевича Виноградова (1931).

Виктор Гюго , Вячеслав Александрович Егоров , Джордж Оливер Смит , Лаванда Риз , Марина Колесова , Оксана Сергеевна Головина

Проза / Классическая проза / Классическая проза ХIX века / Историческая литература / Образование и наука