Kern stand mit Ruth am Fenster. Es war ihm, als wäre er weit fort gewesen und zurückgekommen. Dunkel in ihm war noch das Entsetzen über die Schreie der Gebärenden und ihren zuckenden, blutenden Körper. Er hörte den leisen Atem des Mädchens neben sich und sah ihren sanften, jungen Mund. Er wußte plötzlich, daß auch sie dazu gehörte, zu diesem finsteren Geheimnis, das die Liebe mit einem Ring von Grauen umschloß, er ahnte, daß auch die Nacht dazugehört und die Blüten und dieser schwere Geruch nach Erde und der süße Geigenton über den Dächern, er wußte, daß, wenn er sich umwandte, im flatternden Licht der Kerze die fahle Maske des Todes ihn anstarren würde, und um so stärker fühlte er die Wärme unter seiner Haut, die ihn frösteln machte und ihn nach Wärme suchen ließ, nur nach Wärme und nach nichts als Wärme…
Eine fremde Hand nahm seine Hand und legte sie um die glatten, jungen Schultern neben ihm.
7
Marill saß auf der Zementterrasse des Hotels und fächelte sich mit einer Zeitung. Er hatte einige Bücher vor sich. »Kommen Sie her, Kern!« rief er. »Der Abend naht. Da sucht das Tier die Einsamkeit und der Mensch die Gesellschaft. Was macht die Aufenthaltserlaubnis?«
»Noch eine Woche.« Kern setzte sich zu ihm.
»Eine Woche im Gefängnis ist lang. In der Freizeit kurz.« Marill schlug auf die Bücher vor ihm. »Die Emigration bildet! Auf meine alten Tage lerne ich noch Französisch und Englisch.«
»Ich kann das Wort Emigrant manchmal nicht mehr hören«, sagte Kern verdrießlich.
Marill lachte. »Unsinn! Sie sind in der besten Gesellschaft. Dante war ein Emigrant. Schiller mußte ausreißen. Heine. Victor Hugo. Das sind nur ein paar. Sehen Sie da oben den blassen Bruder Mond – ein Emigrant der Erde. Und Mutter Erde selbst – eine alte Emigrantin der Sonne.« Er blinzelte. »Vielleicht wäre es besser gewesen, diese Emigration wäre unterblieben und wir sausten da noch als feuriges Gas herum. Oder als Sonnenflecken. Meinen Sie nicht?«-»Nein«, sagte Kern.
»Richtig.« Marill fächelte sich wieder mit der Zeitung. »Wissen Sie, was ich eben gelesen habe?«
»Daß die Juden daran schuld sind, daß es nicht regnet.«
»Nein.«
»Daß ein Granatsplitter im Bauch erst das volle Glück für den echten Mann bedeutet.«
»Auch nicht.«
»Daß die Juden deshalb alle Bolschewisten sind, weil sie so gierig Vermögen anhäufen.«
»Nicht schlecht! Weiter.«
»Daß Christus ein Arier war. Der uneheliche Sohn eines germanischen Legionärs…«
Marill lachte. »Nein, Sie werden es nicht erraten. Heiratsanzeigen. Hören Sie mal zu: Wo ist der liebe, sympathische Mann, der mich glücklich machen will? Ebensolches Fräulein, tiefinnerliches Gemüt, vornehmer, edler Charakter, mit Liebe für alles Gute und Schöne und erstklassigen Kenntnissen im Hotelfach sucht gleichgestimmte Seele zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahren in guter Position…« Er blickte auf. »Zwischen fünfunddreißig und vierzig! Einundvierzig scheidet schon aus. Das ist Glaube, was? Oder hier: Wo finde ich Dich, meine Ergänzung? Tiefschürfende Frohnatur, Lady und Hausmütterchen, mit vom Alltag unzerbrochenen Schwingen, Temperament und Geist, innerlicher Schönheit und kameradschaftlichem Verständnis wünscht sich Gentleman mit entsprechendem Einkommen, kunst- und sportliebend, der gleichzeitig ein lieber Bub sein soll. – Herrlich, wie? Oder nehmen wir dieses: Seelisch vereinsamter Fünfziger, sensitive Natur, jünger aussehend, Vollwaise…« Marill hielt inne. »Vollwaise!« wiederholte er. »Mit fünfzig! Welch bedauernswertes Geschöpf, dieser weiche Fünfziger!«
»Hier, mein Lieber!« Er hielt Kern die Zeitung hin. »Zwei Seiten! Jede Woche zwei volle Seiten, nur in dieser einen Zeitung. Sehen Sie bloß die Überschriften, wie es da von Seele, Güte, Kameradschaft, Liebe, Freundschaft wimmelt! Ein wahres Paradies! Der Garten Eden in der Wüste der Politik! Das belebt und erfrischt! Da sieht man, daß es in diesen jämmerlichen Zeiten doch auch noch gute Menschen gibt. Richtet immer auf, so was…«
Er warf die Blätter hin. »Warum sollte nicht auch mal drin-stehen: Kommandant eines Konzentrationslagers, tiefes Gemüt, zarte Seele…«
»Er hält sich gewiß dafür«, sagte Kern.
»Sicher! Je primitiver ein Mensch ist, für um so besser hält er sich, das sehen Sie ja an den Anzeigen hier. Das gibt«- Marill grinste -»die Stoßkraft! Die blinde Überzeugung! Zweifel und Toleranz sind die Eigenschaften des Kulturmenschen. Daran geht er immer aufs neue zugrunde. Die alte Sisyphusarbeit. Eines der tiefsten Gleichnisse der Menschheit.«
»Herr Kern, da ist jemand, der will Sie sprechen«, meldete plötzlich der Pikkolo des Hotels aufgeregt. »Scheint keine Polizei zu sein!«
Kern stand rasch auf. »Gut, ich komme.«
ER ERKANNTE DEN dürftigen älteren Mann auf den ersten Blick nicht wieder. Es war ihm, als sähe er eine unscharfe, verwischte Einstellung auf einer fotografischen Mattscheibe, die erst allmählich schärfer wurde und vertrautere Züge annahm.
»Vater!« sagte er dann tief erschrocken.
»Ja, Ludwig.«