»Wissen Sie, ob die beiden vor ihrem Tod Streit hatten?«
»Sie haben sich prima verstanden. Matt hat sie immer besucht, wenn er dienstfrei hatte. Als die Sache passiert ist, befand er sich mitten in einem zweimonatigen Kriegseinsatz.«
»Und Sie sagen, dass Ihre Tochter mit ihrer Arbeit zufrieden war?«
»Der Beruf ging ihr über alles. Außer uns natürlich. Und … Matt.«
»Würden Sie Ihre Tochter generell als optimistische Person bezeichnen?«
»Sie brauchen gar nicht weiter zu fragen«, sagte Mr Baxter. »Die Polizisten wollten das Gleiche wissen, und ich möchte Ihnen deshalb nicht die Zeit stehlen. Wenn unsere Lizzy unglücklich war, dann war sie eine verdammt gute Schauspielerin. Sie hatten einen Beruf. Einen Freund. Noch im Monat zuvor hatte sie einen Kurs für persönliche Sicherheit absolviert. Sie wissen schon, Selbstverteidigung, Abwehr von Stalkern und dergleichen. Wieso sollte jemand, der die Absicht hat, seinem Leben ein Ende zu setzen, so einen Kursus belegen?« Er schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn.«
»Ich verstehe Sie – so muss es von außen betrachtet ausgesehen haben. Und wegen ihrer Sinnlosigkeit muss die ganze Sache für Sie umso schwerer zu verkraften sein.« Pendergast hielt inne. »Nur eine Frage noch. Sie sagten, dass Elise bei Ihnen gewohnt hat. Ist ihr Zimmer im Moment belegt?«
Das ältere Ehepaar wechselte einen Blick, dann schüttelte der Mann den Kopf.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich es mir einmal kurz anschaue?«
Kurze Stille. Dann erhob sich Harold Baxter. »Ich zeige Ihnen den Weg.«
Während die drei die Treppe hinaufstiegen, ertönte draußen plötzlich Kindergeschrei. »Das Viertel verändert sich«, sagte Baxter. »Es ziehen viele junge Leute her. Meine Frau und ich haben uns schon oft darüber unterhalten, aber wir haben einfach nicht den Mut wegzuziehen … aus diesem Haus auszuziehen.«
Auf halber Strecke des Flurs im ersten Stock blieb er stehen, öffnete eine Tür und deutete in das Zimmer. »Wir haben nichts verändert.«
Pendergast ging hinein. Ein heller, freundlicher Raum, kanariengelb gestrichen, darin ein Himmelbett und helle Holzmöbel. An den Wänden zwei Aquarelle, darstellend Strandszenen, auf der Kommode ein paar Fotos in Rahmen. Während er sich umschaute, fiel ihm auf, dass die Mutter der Toten in der Tür stehen geblieben war.
Er drehte sich zu den beiden um und sagte: »Haben Sie freundlichsten Dank. Es dauert nur eine Minute.«
Während der Ehemann nach unten ging, zeigte Mrs Baxter auf einen Beweismittelbeutel, der auf dem Nachttisch lag. »Das sind die persönlichen Dinge, die man uns zurückgegeben hat, nachdem Lizzy … aus Maine. Die Polizei hat gestern darum gebeten, sie sich einmal anschauen zu dürfen. Ich nehme an, die Beamten haben sie auf dem Nachttisch liegen lassen.«
Pendergast ging hin und nahm sich den Beutel, darin ein Portemonnaie aus Leder, ein Ring aus geflochtenem Silber sowie eine Goldkette mit einem Medaillon, darstellend einen christlichen Heiligen mit einem Hirtenstab in der Hand.
»Das ist der heilige Judas Thaddäus«, sagte die Frau.
Pendergast drehte den Anhänger um. »Der Schutzheilige der hoffnungslosen Fälle.«
»Diese Halskette hat Elise seit ihrem ersten Studienjahr am College getragen. Sie hat uns allerdings nie den Grund dafür verraten.« Leise sagte Mrs Baxter, wobei ihre Stimme irgendwie merkwürdig klang: »Ich frage mich jeden Tag, warum sie ihrem Leben ein Ende gesetzt hat. Jeden einzelnen Tag. Aber nie bekomme ich eine Antwort.« Ein Schluchzer. »Sie hatte doch noch so viel vor im Leben.«
Pendergast sah sie an. »Ich verstehe Sie, Sie trauern noch«, sagte er ruhig. »Und Sie glauben, dass es Anzeichen oder Hinweise gegeben haben muss, die Sie und Ihr Mann übersehen haben. Aber so schwierig es auch zu begreifen ist, Sie sollten eines wissen: Ein Suizid, der ohne Vorwarnung begangen wird, lässt sich besonders schwer bewältigen – und weil die einzige Stimme, die Ihnen das alles erklären könnte, nicht mehr da ist, ist ein solcher Selbstmord derjenige, der sich besonders stark dem Verstehen entzieht. Was Sie nicht tun dürfen, ist, sich selbst die Schuld daran zu geben.«
Während er das sagte, musterte die Frau ihn. Und dann, als folgte sie einer plötzlichen Regung, trat sie vor und schloss mit beiden Händen seine Finger um das Medaillon.
»Behalten Sie es.«
Pendergast blickte sie fragend an. »Mrs Baxter, ich –«
Mit einer knappen Geste brachte sie ihn zum Schweigen. »Bitte. Ich glaube, Sie sind jemand, der ein wenig weiß über hoffnungslose Fälle.«
Dann wandte sie sich ab und folgte ihrem Ehemann ins Erdgeschoss.