Eine bittere Kälte legte sich über sie. Harry spürte seinen Atem in der Brust stocken. Die Kälte drang ihm unter die Haut. Sie drang in seine Brust, ins Innere seines Herzens…
Harrys Augäpfel drehten sich nach innen. Er konnte nichts mehr sehen. Die Kälte ertränkte ihn. In seinen Ohren rauschte es, wie von Wasser. Etwas zog ihn in die Tiefe, das Rauschen wurde lauter…
Und dann, aus weiter Ferne, hörte er Schreie, schreckliche, grauenerfüllte, flehende Schreie – er wollte helfen, wer auch immer es war, er versuchte die Arme zu bewegen, doch er konnte nicht – ein dichter weißer Nebel wirbelte um ihn auf, drang in sein Inneres -
»Harry! Harry! Alles in Ordnung?«
Jemand gab ihm eine Ohrfeige.
»W-was?«
Harry öffnete die Augen; über ihm brannten Lampen, und der Fußboden vibrierte – die Lichter waren angegangen und der Hogwarts-Express fuhr wieder. Offenbar war er von seinem Sitz auf den Boden geglitten. Ron und Hermine knieten neben ihm, und über ihnen sah er Neville und Professor Lupin, die ihn gespannt musterten. Harry war speiübel; als er die Hand hob, um seine Brille zurechtzurücken, spürte er kalten Schweiß auf seinem Gesicht.
Ron und Hermine hievten ihn zurück auf seinen Platz.
»Geht's wieder?«, fragte Ron nervös.
»Ja«, sagte Harry und warf rasch einen Blick zur Tür. Die vermummte Kreatur war verschwunden.»Was ist passiert? Wo ist dieses – dieses Wesen? Wer hat geschrien?«
»Kein Mensch hat geschrien«, sagte Ron, jetzt noch nervöser.
Harry sah sich in dem hell erleuchteten Abteil um. Ginny und Neville, beide ganz blaß, erwiderten seinen Blick.
»Aber ich hab Schreie gehört.«
Ein lautes Knacken ließ sie alle zusammenfahren. Professor Lupin brach einen gewaltigen Riegel Schokolade in Stücke.
»Hier«, sagte er zu Harry und reichte ihm ein besonders großes Stück.»Iß. Dann geht's dir besser.«
Harry nahm die Schokolade, aß sie jedoch nicht.
»Was war das für ein Wesen?«, fragte er Lupin.
»Ein Dementor«, sagte Lupin, während er die Schokolade an die andern verteilte.»Einer der Dementoren von Askaban.«
Alle starrten ihn an. Professor Lupin knüllte das leere Schokoladenpapier zusammen und steckte es in die Tasche.
»Iß«, sagte er noch einmal.»Das hilft. Entschuldigt mich, ich muß mit dem Zugführer sprechen -«
Er ging an Harry vorbei und verschwand im Gang.
»Bist du sicher, daß du in Ordnung bist, Harry?«, sagte Hermine und musterte ihn besorgt.
»Ich begreif es nicht… was ist passiert?«, fragte Harry und wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn.
»Nun – dieses Wesen – dieser Dementor – stand da und hat sich umgesehen – wenigstens nehm ich an, daß er es tat, ich konnte sein Gesicht nicht sehen – und du, du -«
»Ich dachte, du hättest so eine Art Anfall«, sagte Ron, dem der Schreck immer noch im Gesicht stand.»Du bist irgendwie steif geworden und von deinem Sitz gefallen und hast angefangen zu zucken.«
»Und Professor Lupin ist über dich gestiegen, hat sich vor dem Dementor aufgestellt und den Zauberstab gezückt«, sagte Hermine.»Und dann hat er gesagt: >Keiner von uns hier versteckt Sirius Black unter seinem Umhang. Geht.< Aber der Dementor hat sich nicht gerührt. Dann hat Lupin etwas gemurmelt und etwas Silbernes ist aus seinem Zauberstab auf den Dementor gerichtet geschossen und der hat sich umgedreht und ist auf so merkwürdige Art davongeglitten.«
»Es war schrecklich«, sagte Neville mit noch höherer Stimme als sonst.»Hast du gemerkt, wie kalt es wurde, als er reinkam?«
»Ich hab mich so komisch gefühlt«, sagte Ron und zog beklommen die Schultern hoch.»Als ob ich nie mehr froh sein würde…«
Ginny, die in ihrer Ecke zusammengekauert saß und fast so schlecht aussah, wie Harry sich fühlte, ließ einen leisen Schluchzer vernehmen; Hermine ging zu ihr und legte ihr tröstend den Arm um die Schultern.
»Aber ist denn keiner von euch – vom Sitz gefallen?«, fragte Harry verlegen.
»Nein«, sagte Ron und sah Harry erneut beunruhigt an.»Aber Ginny hat wie verrückt gezittert…«
Harry begriff nicht. Er fühlte sich schwach und wackelig; als ob er sich von einem schweren Grippeanfall erholen müßte; auch spürte er einen Anflug von Scham. Warum hatte es ausgerechnet ihn so fürchterlich erwischt und keinen von den andern?
Professor Lupin kam zurück. Er trat ein, Stockte, sah sich um und sagte dann mit dem Anflug eines Lächelns:
»Ich hab die Schokolade nicht vergiftet, glaub mir…«
Harry biß ein Stück ab, und zu seiner großen Überraschung breitete sich plötzlich Wärme bis in seine Fingerspitzen und Zehen aus.
»In zehn Minuten sind wir in Hogwarts«, sagte Professor Lupin.»Wie geht's dir, Harry?«
Harry fragte nicht, woher Professor Lupin seinen Namen kannte.
»Gut«, nuschelte er verlegen.
Sie sprachen nicht viel während der verbleibenden Reise. Endlich hielt der Zug am Bahnhof von Hogwarts. Unter großem Durcheinander drängelten alle nach draußen; Eulen heulten, Katzen miauten und Nevilles Kröte quakte laut unter seinem Hut hervor. Auf dem kleinen Bahnsteig war es bitterkalt; in eisigen Böen prasselte der Regen nieder.