Er erhob sich und schritt mit wehendem schwarzem Umhang an der Klasse vorbei. An der Tür drehte er sich auf den Fersen um und sagte:»Vermutlich hat keiner Sie gewarnt, Lupin, aber in dieser Klasse ist Neville Longbottom. Ich kann Ihnen nur raten, ihm nichts Schwieriges aufzugeben. Außer wenn Miss Granger ihm Anweisungen ins Ohr zischt.«
Neville wurde scharlachrot. Harry starrte Snape zornig an; schlimm genug, daß er Neville in seinem eigenen Unterricht drangsalierte, und jetzt tat er es auch noch vor einem anderen Lehrer.
Professor Lupin zog die Augenbrauen hoch.
»Ich hatte gehofft, Neville würde mir beim ersten Schritt des Unternehmens behilflich sein«, sagte er,»und ich bin mir sicher, er wird es auf bewundernswerte Weise schaffen.«
Nevilles Gesicht lief, soweit dies möglich war, noch röter an. Snapes Lippen kräuselten sich, doch er ging hinaus und schlug die Tür zu.
»Nun denn«, sagte Professor Lupin und winkte die Klasse zum anderen Ende des Zimmers, wo nichts war außer einem alten Schrank, in dem die Lehrer ihre Ersatzumhänge aufbewahrten. Als Professor Lupin vor den Schrank trat, fing der plötzlich an heftig zu ruckeln und krachte gegen die Wand.
»Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte Professor Lupin gelassen, denn ein paar Schüler waren erschrocken zurückgewichen.»In diesem Schrank steckt ein Irrwicht.«
Die meisten schienen nicht recht glauben zu wollen, daß dies wirklich kein Grund zur Beunruhigung sei. Neville warf Professor Lupin einen grauenerfüllten Blick zu und Seamus Finnigan starrte wie gebannt auf den ruckelnden Türknopf.
»Irrwichte mögen dunkle, enge Räume«, sagte Professor Lupin.»Schränke, die Lücke zwischen Betten, Spülkästen – ich hab sogar mal einen getroffen, der es sich in einer Standuhr gemütlich gemacht hatte. Dieser hier ist gestern Nachmittag eingezogen, und ich habe den Schulleiter gefragt, ob die Kollegen ihn meiner dritten Klasse zum Üben überlassen könnten.
Nun, die erste Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Was ist ein Irrwicht?«
Hermine hob die Hand.
»Es ist ein Gestaltwandler«, sagte sie.»Er kann die Gestalt dessen annehmen, wovor wir, wie er spürt, am meisten Angst haben.«
»Das hätte ich selber nicht besser ausdrücken können«, sagte Professor Lupin, und Hermine strahlte.»Der Irrwicht sitzt also in der Dunkelheit herum und hat noch keine Gestalt angenommen. Er weiß noch nicht, was der Person auf der anderen Seite der Tür Angst macht. Keiner weiß, wie ein Irrwicht aussieht, wenn er allein ist, doch wenn wir ihn herauslassen, wird er sich sofort in das verwandeln, was wir am meisten fürchten.
Und das heißt«, fuhr Professor Lupin fort, ohne Nevilles leises entsetztes Keuchen zu beachten,»daß wir von Anfang an gewaltig im Vorteil sind. Kannst du dir denken, warum, Harry?«
Eine Antwort zu versuchen, während Hermine neben ihm auf den Fußballen auf- und abhüpfte und die Hand in die Luft streckte, war ziemlich lästig, doch Harry hatte einen Einfall.
»Ähm – weil wir so viele sind und er nicht weiß, welche Gestalt er annehmen soll?«
»Genau«, sagte Professor Lupin und Hermine ließ ein wenig enttäuscht die Hand sinken.»Man sollte nie allein sein, wenn man es mit einem Irrwicht aufnehmen will. Das bringt ihn durcheinander. Was soll er denn werden, eine kopflose Leiche oder eine Fleisch fressende Schnecke? Ich hab mal einen Irrwicht gesehen, der diesen Fehler gemacht hat – wollte zwei Leute auf einmal erschrecken und hat sich in eine halbe Schnecke verwandelt. Einfach lächerlich.
Der Zauber, der einen Irrwicht vertreibt, ist einfach, aber er verlangt geistige Anstrengung. Was einem Irrwicht wirklich den Garaus macht, ist nämlich Gelächter. Ihr müßt versuchen ihn zu zwingen, eine Gestalt anzunehmen, die ihr komisch findet.
Wir üben den Zauber erst mal ohne Zauberstab. Nach mir, bitte… Riddikulus!«
»Riddikulus!«, sagte die Klasse wie aus einem Mund.
»Gut«, sagte Professor Lupin.»Sehr gut. Aber das war leider nur der leichte Teil. Denn das Wort allein genügt nicht. Und jetzt bist du dran, Neville.«
Der Schrank fing wieder an zu zittern, allerdings nicht so heftig wie Neville, der einige Schritte vortrat, als ob es zum Galgen ginge.
»Schön, Neville«, sagte Professor Lupin.»Das Wichtigste zuerst: Was, würdest du sagen, ist es, das dir am meisten auf der Welt Angst macht?«
Nevilles Lippen bewegten sich, doch kein Wort kam heraus.
»Verzeihung, Neville, ich hab dich nicht verstanden«, sagte Professor Lupin gut gelaunt.
Neville sah sich mit panischem Blick um, als ob er jemanden bitten wollte, ihm zu helfen, dann sagte er, kaum vernehmlich flüsternd:
»Professor Snape.«
Fast alle lachten. Selbst Neville grinste peinlich verlegen. Professor Lupin jedoch war nachdenklich geworden.
»Professor Snape… hmmm… Neville, stimmt es, daß du bei deiner Großmutter lebst?«
»Ähm – ja«, sagte Neville nervös.»Aber ich will nicht, daß der Irrwicht sich in sie verwandelt.«