Er drehte sich zu Curry um. »Ich erzähle Ihnen mal was über diesen Typen in Piermont, Baugh. Der tote Junge war sein einziges Kind. Grace Ozmian, die Fahrerflucht begangen hat und in deren Mordfall wir ermitteln, ist praktisch ungeschoren davongekommen. Nach dem Tod des Jungen ist die Familie zerbrochen. Die Mutter wurde alkoholkrank und hat am Ende Selbstmord begangen. Der Vater hat eine Zeit lang in einer psychiatrischen Klinik gelegen, und seine Landschaftsbaufirma in Beverly Hill ist bankrott gegangen. Vor einem halben Jahr ist er an die Ostküste gezogen. Arbeitet jetzt in einer Bar.«
»Warum ist er denn an die Ostküste gezogen?«, fragte Curry. »Hat er Familie da?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Curry nickte erneut. Er war ein großer, kräftiger Kerl mit rundem Kopf, rötlichem Haar und einem Crew Cut. Er wirkte nicht schlau und redete auch nicht schlau, aber nach einiger Zeit war D’Agosta dahintergekommen, dass er intelligent war, und zwar verdammt intelligent. Er machte nur eben erst dann den Mund auf, wenn er etwas zu sagen hatte.
Sie verließen den Palisades Parkway und bogen auf die 9W Richtung Norden. Es war vier Uhr nachmittags, und die Rushhour war noch nicht voll im Gange. Nach einigen Minuten kamen sie im Städtchen Piermont an. Ein reizendes kleines Nest, am Hudson gelegen, mit einer Marina neben einem gigantischen Pier, der dem Städtchen den Namen gegeben hatte, hübschen Holzhäusern in den Hügeln oberhalb des Hudson und einem spektakulären Blick auf die Tappan Zee Bridge. D’Agosta holte sein Handy hervor und rief Google Maps auf.
»Die Bar heißt
D’Agosta ging zum Bartresen, holte seinen Dienstausweis hervor und legte ihn auf den Tresen. »Lieutenant D’Agosta, Mordkommission New York Police Department. Das hier ist Sergeant Curry. Wir suchen nach Jory Baugh.«
Der große, schwere Kerl musterte sie abschätzig aus kalten blauen Augen. »Sie haben ihn gefunden.«
D’Agosta wunderte sich, ließ sich jedoch nichts anmerken. Im Internet hatte er ein paar verwaschene Fotos von Baugh gefunden, aber auf denen sah er ganz anders aus als dieser Muskelprotz. Der Mann hier war nicht leicht zu lesen. Das Gesicht war völlig ausdruckslos.
»Darf ich Ihnen einige Fragen stellen, Mr. Baugh?«
»Worüber?«
»Wir ermitteln im Mordfall Grace Ozmian.«
Baugh legte das Tresenhandtuch beiseite, verschränkte die muskelbepackten Arme vor der Brust und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tresen.
»Schießen Sie los.«
»Ich versichere Ihnen, dass Sie im Augenblick nicht tatverdächtig sind und dieses Gespräch freiwillig ist. Falls Sie sich dennoch als tatverdächtig erweisen, brechen wir das Gespräch ab, erklären Ihnen Ihre Rechte und geben Ihnen Gelegenheit, einen Anwalt hinzuziehen. Haben Sie das verstanden?«
Baugh nickte.
»Können Sie sich daran erinnern, was Sie am Mittwoch, dem vierzehnten Dezember, getan haben?«
Der Mann griff unter den Tresen, zog einen Kalender hervor, warf einen kurzen Blick darauf. »Ich habe hier am Tresen gearbeitet, von drei bis Mitternacht. Ich gehe jeden Morgen ins Fitnesscenter, von acht bis zehn. Dazwischen war ich zu Hause.« Er legte den Kalender wieder zurück. »Okay?«
»Gib es jemanden, der das bestätigen kann?«
»Im Fitnesscenter. Und hier in der Bar. Dazwischen, nein.«
Der Rechtsmediziner hatte den Todeszeitpunkt auf circa 22 Uhr, 14. Dezember, eingegrenzt, plus/minus vier Stunden. Um von hier in die Innenstadt zu gelangen, einen Menschen zu töten, sich Zeit zu lassen, bis das Opfer verblutet war, die Leiche in die Werkstatt in Queens zu verfrachten, vielleicht einen Tag später zurückzukommen, um den Kopf abzuschneiden … Diese Fragen musste D’Agosta auf Papier ausarbeiten.
»Na, zufrieden?«, fragte Baugh mit streitlustigem Unterton. D’Agosta sah ihn an. Baugh kochte förmlich vor unterdrückter Wut. In einem der verschränkten Arme zuckte ein Muskel.
»Mr. Baugh, warum sind Sie an die Ostküste gezogen? Haben Sie Freunde oder Angehörige in Piermont?«
Baugh beugte sich über den Tresen und schob sein Gesicht in Richtung D’Agosta. »Ich habe einen Scheißdartpfeil auf die Karten der Vereinigten Staaten geworfen.«
»Und der hat Piermont getroffen?«
»Genau.«
»Komisch, wie nahe der Dartpfeil dort gelandet ist, wo die Mörderin Ihres Sohnes wohnt.«
»Ey, nun hören Sie mir mal gut zu, Freundchen – wie war noch gleich Ihr Name, D’Agosta?«
»Richtig.«