Die Bücherrücken stehen, nebeneinander. Ich kenne sie noch und erinnere mich, wie ich sie geordnet habe. Ich bitte sie mit meinen Augen: Sprecht zu mir, – nehmt mich auf – nimm mich auf, du Leben von früher, – du sorgloses, schönes – nimm mich wieder auf – Ich warte, ich warte.
Bilder ziehen vorüber, sie haken nicht fest, es sind nur Schatten und Erinnerungen.
Nichts – nichts.
Meine Unruhe wächst.
Ein fürchterliches Gefühl der Fremde steigt plötzlich in mir hoch. Ich kann nicht zurückfinden, ich bin ausgeschlossen; so sehr ich auch bitte und mich anstrenge, nichts bewegt sich, teilnahmslos und traurig sitze ich wie ein Verurteilter da, und die Vergangenheit wendet sich ab. Gleichzeitig spüre ich Furcht, sie zu sehr zu beschwören, weil ich nicht weiß, was dann alles geschehen könnte. Ich bin ein Soldat, daran muß ich mich halten.
Müde stehe ich auf und schaue aus dem Fenster. Dann nehme ich eines der Bücher und blättere darin, um zu lesen. Aber ich stelle es weg und nehme ein anderes. Es sind Stellen darin, die angestrichen sind. Ich suche, blättere, nehme neue Bücher. Schon liegt ein Pack neben mir. Andere kommen dazu, hastiger
– Blätter, Hefte, Briefe. Stumm stehe ich davor. Wie vor einem Gericht. Mutlos. Worte, Worte, Worte – sie erreichen mich nicht. Langsam stelle ich die Bücher wieder in die Lücken. Vorbei. Still gehe ich aus dem Zimmer.
Noch gebe ich es nicht auf. Mein Zimmer betrete ich zwar nicht mehr, aber ich tröste mich damit, daß einige Tage noch nicht ein Ende zu sein brauchen. Ich habe nachher -später – Jahre dafür Zeit. Vorläufig gehe ich zu Mittelstaedt in die Kaserne, und wir sitzen in seiner Stube, da ist eine Luft, die ich nicht liebe, an die ich aber gewöhnt bin. Mittelstaedt hat eine Neuigkeit parat, die mich sofort elektrisiert. Er erzählt mir, daß Kantorek eingezogen worden sei als Landsturmmann.»Stell dir vor«, sagt er und holt ein paar gute Zigarren heraus,»ich komme aus dem Lazarett hierher und falle gleich über ihn. Er streckt mir seine Pfote entgegen und quakt: ›Sieh da, Mittelstaedt, wie geht es denn?‹ – Ich sehe ihn groß an und antworte: ›Landsturmmann Kantorek, Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, das sollten Sie selbst am besten wissen. Nehmen Sie Haltung an, wenn Sie mit einem Vorgesetzten reden.‹ – Du hättest sein Gesicht sehen müssen! Eine Kreuzung aus Essiggurke und Blindgänger. Zögernd versuchte er noch einmal, sich anzubiedern. Da schnauzte ich etwas schärfer. Nun führte er seine stärkste Batterie ins Gefecht und fragte vertraulich › ›Soll ich Ihnen vermitteln, daß Sie Notexamen machen?‹ Er wollte mich erinnern, verstehst du. Da packte mich die Wut, und ich erinnerte ihn auch. ›Landsturmmann Kantorek, vor zwei Jahren haben Sie uns zum Bezirkskommando gepredigt, darunter auch den Joseph Behm, der eigentlich nicht wollte. Er fiel drei Monate bevor er eingezogen worden wäre. Ohne Sie hätte er solange gewartet. Und jetzt: Wegtreten. Wir sprechen uns noch.‹ – Es war mir leicht, seiner Kompanie zugeteilt zu werden. Als erstes nahm ich ihn zur Kammer und sorgte für eine hübsche Ausrüstung. Du wirst ihn gleich sehen.«
Wir gehen auf den Hof. Die Kompanie ist angetreten. Mittelstaedt läßt rühren und besichtigt.
Da erblicke ich Kantorek und muß das Lachen verbeißen. Er trägt eine Art Schoßrock aus verblichenem Blau. Auf dem Rücken und an den Ärmeln sind große dunkle Flicken eingesetzt. Der Rock muß einem Riesen gehört haben. Um so kürzer ist die abgewetzte schwarze Hose; sie reicht bis zur halben Wade. Dafür sind aber die Schuhe sehr geräumig, eisenharte, uralte Treter, mit hochgebogenen Spitzen, noch an den Seiten zu schnüren. Als Ausgleich ist die Mütze wieder zu klein, ein furchtbar dreckiges, elendes Krätzchen. Der Gesamteindruck ist erbarmungswürdig. Mittelstaedt bleibt stehen vor ihm:»Landsturmmann Kantorek, ist das Knopfputz? Sie scheinen es nie zu lernen. Ungenügend, Kantorek, ungenügend -«
Ich brülle innerlich vor Vergnügen. Genauso hat Kantorek in der Schule Mittelstaedt getadelt, mit demselben Tonfall:»Ungenügend, Mittelstaedt, ungenügend.«
Mittelstaedt mißbilligt weiter:»Sehen Sie sich mal Boettcher an, der ist vorbildlich, von dem können Sie lernen.«
Ich traue meinen Augen kaum. Boettcher ist ja auch da, unser Schulportier. Und der ist vorbildlich! Kantorek schießt mir einen Blick zu, als ob er mich fressen möchte. Ich aber grinse ihm nur harmlos in die Visage, so als ob ich ihn gar nicht weiter kenne.