Wir haben kein Glück. Nachdem wir drei Stunden abwechselnd gewartet haben, löst sich die Reihe auf. Die Knochen sind zu Ende.
Es ist gut, daß ich meine Verpflegung erhalte. Davon bringe ich meiner Mutter mit, und wir haben so alle etwas kräftigeres Essen.
Immer schwerer werden die Tage, die Augen meiner Mutter immer trauriger. Noch vier Tage. Ich muß zu Kemmerichs Mutter gehen.
Man kann das nicht niederschreiben. Diese bebende, schluchzende Frau, die mich schüttelt und mich anschreit:»Weshalb lebst du denn, wenn er tot ist!«, die mich mit Tränen überströmt und ruft:»Weshalb seid ihr überhaupt da, Kinder, wie ihr -«, die in einen Stuhl sinkt und weint:»Hast du ihn gesehen? Hast du ihn noch gesehen? Wie starb er?«
Ich sage ihr, daß er einen Schuß ins Herz erhalten hat und gleich tot war. Sie sieht mich an, sie zweifelt:»Du lügst. Ich weiß es besser. Ich habe gefühlt, wie schwer er gestorben ist. Ich habe seine Stimme gehört, seine Angst habe ich nachts gespürt, – sag die Wahrheit, ich will es wissen, ich muß es wissen.«
»Nein«, sage ich,»ich war neben ihm. Er war sofort tot.«Sie bittet mich leise:»Sag es mir. Du mußt es. Ich weiß, du willst mich damit trösten, aber siehst du nicht, daß du mich schlimmer quälst, als wenn du die Wahrheit sagst? Ich kann die Ungewißheit nicht ertragen, sag mir, wie es war, und wenn es noch so furchtbar ist. Es ist immer noch besser, als was ich sonst denken muß.«
Ich werde es nie sagen, eher kann sie aus mir Hackfleisch machen. Ich bemitleide sie, aber sie kommt mir auch ein wenig dumm vor. Sie soll sich doch zufrieden geben, Kemmerich bleibt tot, ob sie es weiß oder nicht. Wenn man so viele Tote gesehen hat, kann man so viel Schmerz um einen einzigen nicht mehr recht begreifen. So sage ich etwas ungeduldig:»Er war sofort tot. Er hat es gar nicht gefühlt. Sein Gesicht war ganz ruhig.«
Sie schweigt. Dann fragt sie langsam:»Kannst du das beschwören?«
»Ja.«
»Bei allem, was dir heilig ist?«
Ach Gott, was ist mir schon heilig; – so was wechselt ja schnell bei uns.
»Ja, er war sofort tot.«
»Willst du selbst nicht wiederkommen, wenn es nicht wahr ist?«
»Ich will nicht wiederkommen, wenn er nicht sofort tot war.«
Ich würde noch wer weiß was auf mich nehmen. Aber sie scheint mir zu glauben. Sie stöhnt und weint lange. Ich soll erzählen, wie es war, und erfinde eine Geschichte, an die ich jetzt beinahe selbst glaube.
Als ich gehe, küßt sie mich und schenkt mir ein Bild von ihm. Er lehnt darauf in seiner Rekrutenuniform an einem runden Tisch, dessen Beine aus ungeschälten Birkenästen bestehen. Dahinter ist ein Wald gemalt als Kulisse. Auf dem Tisch steht ein Bierseidel.
Es ist der letzte Abend zu Hause. Alle sind schweigsam. Ich gehe früh zu Bett, ich fasse die Kissen an, ich drücke sie an mich und lege den Kopf hinein. Wer weiß, ob ich je wieder so in einem Federbett liegen werde!
Meine Mutter kommt spät noch in mein Zimmer. Sie glaubt, daß ich schlafe, und ich stelle mich auch so. Zu sprechen, wach miteinander zu sein, ist zu schwer.
Sie sitzt fast bis zum Morgen, obschon sie Schmerzen hat und sich manchmal krümmt. Endlich kann ich es nicht mehr aushaken, ich tue, als erwachte ich.
»Geh schlafen, Mutter, du erkältest dich hier.«
Sie sagt:»Schlafen kann ich noch genug später.«
Ich richte mich auf.»Es geht ja nicht sofort ins Feld, Mutter. Ich muß doch erst vier Wochen ins Barackenlager. Von dort komme ich vielleicht einen Sonntag noch herüber.«
Sie schweigt. Dann fragt sie leise:»Fürchtest du dich sehr?«
»Nein, Mutter.«
»Ich wollte dir noch sagen: Nimm dich vor den Frauen in acht in Frankreich. Sie sind schlecht dort.«
Ach Mutter, Mutter! Für dich bin ich ein Kind, – warum kann ich nicht den Kopf in deinen Schoß legen und weinen? Warum muß ich immer der Stärkere und der Gefaßtere sein, ich möchte doch auch einmal weinen und getröstet werden, ich bin doch wirklich nicht viel mehr als ein Kind, im Schrank hängen noch meine kurzen Knabenhosen, – es ist doch erst so wenig Zeit her, warum ist es denn vorbei?
So ruhig ich kann, sage ich:»Wo wir liegen, da sind keine Frauen, Mutter.«
»Und sei recht vorsichtig dort im Felde, Paul.«
Ach Mutter, Mutter! Warum nehme ich dich nicht in meine Arme, und wir sterben. Was sind wir doch für arme Hunde!
»Ja, Mutter, das will ich sein.«
»Ich werde jeden Tag für dich beten, Paul.«
Ach Mutter, Mutter! Laß uns aufstehen und fortgehen, zurück durch die Jahre, bis all dies Elend nicht mehr auf uns liegt, zurück zu dir und mir allein, Mutter!
»Vielleicht kannst du einen Posten bekommen, der nicht so gefährlich ist.«
»Ja, Mutter, vielleicht komme ich in die Küche, das kann wohl sein.«
»Nimm ihn ja an, wenn die andern auch reden -«
»Darum kümmere ich mich nicht, Mutter -«
Sie seufzt. Ihr Gesicht ist ein weißer Schein im Dunkel.
»Nun mußt du schlafen gehen, Mutter.«