Das französische Versprechen, im Falle einer Danzig-Auseinandersetzung Deutschland anzugreifen, wiegt deshalb schwerer als die Garantie der Briten, weil 1939 nur die Franzosen über ein Heer verfügen, das in der Lage wäre, Deutschland direkt und unverzüglich anzugreifen. Die Briten mit Flotte und mit Luftstreitkräften – das wissen auch die Polen – könnten nur mittelbar und in einem Krieg von langer Dauer helfen. Polen aber kann einen Krieg nur mit direkter und schneller Hilfe gewinnen und, wenn es schlecht kommt, überstehen. So ist es vor allem die französische Regierung, die Polen mit dem Versprechen des Zweifrontenkrieges gegen Deutschland in den Krieg lockt. Mit solcher „guten Aussicht“ hat die polnische Regierung auch kaum noch einen Anreiz, um einen neuen Danzig-Status und um exterritoriale deutsche Transitwege zu verhandeln.
Auch sonst zeigt Frankreich im Jahre 1939 wenig Neigung, dem Frieden eine Chance zu geben. Noch kurz vor dem verhängnisvollen Gamelin-Versprechen vom 17. Mai an Kasprzycki versucht Papst Pius XII. die Konflikte durch Verhandlungen der großen Staaten in Europa auf einer Fünf-Mächte-Konferenz aus der Welt zu schaffen oder zu entschärfen. Frankreichs Premierminister Daladier lehnt es, wie berichtet, ab, an solchen Verhandlungen teilzunehmen. Im frühen 522
Sommer 1939 sind die Franzosen eher damit beschäftigt, eine französisch-britisch-polnisch-sowjetische Koalition für den Krieg gegen das Deutsche Reich zu arrangieren. Frankreich hofft, bei minimalem eigenem Aufwand mit der Kraft der versammelten Verbündeten Deutschland zu besiegen. Es bemüht sich außerdem, die Schwelle zu einem neuen Weltkrieg so weit abzusenken, daß er auch wahrscheinlich wird. So teilt der französische Außenminister Bonnet der deutschen Reichsregierung am 1. Juli 39 in einer Note mit, daß schon ein deutscher Versuch, den Status quo von Danzig zu verändern, zu einem Krieg mit Deutschland führt9. Schon ein Versuch!
Auch als Hitler am 24. August und noch einmal – um 5 vor 12 – am 30. August die Angriffsbefehle für die Wehrmacht aufhebt und damit zeigt, daß er nur Danzig und nicht Polen haben will, bestärkt Frankreich Polen, zur vorgeschlagenen, moderaten Danzig-Regelung Nein zu sagen, wohl wissend, daß das Krieg bedeutet.
Französische Bemühungen, das in Versailles selbst geschaffene Problem des Freistaats Danzig im Konsens mit den Beteiligten zu lösen, unterbleiben. Außer vielen Beteuerungen des eigenen Friedenswillens trägt Frankreich nichts zum Frieden bei. Präsident Daladier ist 1939 genauso kriegsbereit wie Hitler. Der ei-ne scheut nicht vor dem Krieg zurück, wenn er damit Deutschland wieder auf Versailles-Niveau herunterstufen kann. Der andere scheut nicht vor dem Krieg zurück, wenn er damit die letzten Störfaktoren von Versailles beseitigen kann, die Abtrennung Danzigs und Ostpreußens vom Deutschen Reich. Am 3. September 1939 erklärt Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg.
Polens Beitrag zum Kriegsausbruch
Polen ist nicht nur der gestrafte Erbe einer in Versailles übernommenen Last mit einer großen Zahl von ethnischen Minderheiten und vielen zudiktierten Grenz-problemen. Polen, obwohl es nach dem äußeren Anschein als das erste Opfer des Zweiten Weltkriegs dasteht, gehört bei genauerem Betrachten auch zu den ersten Tätern.
Der 1918 wiedererstandene Staat Polen bringt es fertig, in den ersten vier Jahren seiner neuen Existenz Streit und Kriege mit fast allen seinen Nachbarn zu beginnen. 1918, noch vor den Versailler Grenzentscheidungen, nutzt Polen den Waffenstillstand der Siegerstaaten mit dem Deutschen Reich und nimmt im Handstreich die bis dahin deutschen Provinzen Posen und Westpreußen in Besitz.
Letztere ist allerdings nicht überwiegend polnisch, und die Annexion des Nordens der Provinz trennt den deutschen Landesteil Ostpreußen vom Rest des Deut-9 Paul Karl Schmidt, Seite 74
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schen Reiches. Es entsteht der sogenannte Korridor. Auch wenn die Sieger dieses Landstück den Polen später zugestehen, so ist es dennoch Polen, das zuerst die Fakten schafft, das dann eine Volksabstimmung im umstrittenen Land verhindert, und das 1939 eine moderate Lösung für die Verkehrsanbindung Ostpreußens an das Reich als unzumutbar ablehnt. Das Korridor-Problem, von Polen geschaffen und erhalten, wird Polen 1939 zum Verhängnis.
Zum gleichen Stil gehören von 1919 bis 1921 die polnischen Versuche, in Oberschlesien eine Volksabstimmung zu vereiteln, und als das nicht funktioniert, das deutsche Oberschlesien zu erobern. Das Verhalten der Polen im Oberschlesien-Streit trägt nicht unerheblich dazu bei, daß ein Großteil aller Deutschen die Kriegseröffnung Hitlers 1939 als recht und billig akzeptiert, auch wenn sie diesen Krieg mit Polen an und für sich nicht führen möchten.