Sie glaubten die Gesten ihrer Gefängniswärter zu verstehen, hatten jedoch nicht die geringste Vorstellung von deren Psyche und Denkweise. Ihre Absichten in jedem einzelnen Fall zu erraten war unmöglich. Ebenso wie sich das Äußere der Venusmenschen von dem der Erdenmenschen unterschied, mußte sich auch ihre Handlungsweise von der irdischen unterscheiden. Alles war unbekannt: die Sitten und Gebräuche, die Auffassung von der Umwelt und die Art zu denken.
Nach zehn Minuten etwa kehrte der eine Venusianer zurück.
Ihm folgten zehn Reptile. Sie hoben den Geländewagen auf und trugen ihn zum Ausgang. Die fünf Venusianer blieben im Haus zurück, und die Aufregung der Menschen wuchs. Die Anwesenheit der zweifellos hochintelligenten Geschöpfe wirkte, obwohl sie den Menschen nicht ähnelten, beruhigend. Mit den vermeintlichen Schildkröten aber gab es nichts Gemeinsames.
Die Astronauten fühlten sich unwillkürlich an der Seite der Venusianer weitaus sicherer. Diese Überzeugung erklärte sich aus der Hochachtung, die der Mensch gewöhnlich vor der Vernunft empfindet, in welcher Form sie auch auftreten mag. Von der Vernunft erwartet er ganz selbstverständlich „Menschlichkeit“.
Die „Schildkröten“ verließen den Hauseingang und traten hinaus auf die unterirdische Straße.
Wohin trugen sie das Kettenfahrzeug? Es sollte sich bald herausstellen. Minuten später standen sie wieder vor jenem Haus, in dem die drei Männer zuerst gewesen waren. Die Reptile stellten den Wagen an seinen früheren Platz und verschwanden nacheinander.
Abermals erblickten die Sternfahrer um sich nichts als die kahlen Wände des Gefängnisses.
„Wenn wir noch vierundzwanzig Stunden hierbleiben müssen“, sagte Belopolski, „sind wir verloren.“
Das Geheimnis der Steinschale
Der Lebensmittelvorrat ging zur Neige. Aber was noch schlimmer war — auch der Sauerstoff reichte nicht mehr lange. Die Kosmonauten zapften den letzten Reserveballon an. Bei strengster Sparsamkeit würde er noch zwölf Stunden reichen, vorausgesetzt, alle drei hielten sich möglichst viel außerhalb des Wagens auf.
Fünfzehn Stunden waren schon vergangen.
Die Gelehrten der Venus schienen sie vergessen zu haben.
Niemand kam — außer zwei Venusianern, die den Menschen zweimal Fischfladen brachten.
Das ließ erkennen, daß sie für ihre Gefangenen in gewisser Weise doch sorgten und nicht wollten, daß sie Hungers stürben.
Aber es war klar, daß sie an das Wichtigste, die Atemluft, überhaupt nicht dachten.
„Heute!“ sagte Belopolski.
Balandin und Romanow schwiegen.
Ja! Heute wird es ein Ende haben! Ehe die Nacht anbricht, werden sie tot sein.
Belopolski sah dem Tod mit olympischer Ruhe entgegen. Er glaubte alles getan zu haben, was in ihrer Lage getan werden konnte. Wenn die Venusianer den Brief überbracht hatten, wußte Melnikow schon Bescheid. Das Raumschiff würde zur Erde zurückkehren und den Menschen Kunde bringen, daß die Venus mit vernunftbegabten Geschöpfen bevölkert ist. Eine große Expedition würde ausgerüstet werden; sie würde die Höhle untersuchen, den Bergsee finden und alle Geheimnisse entschleiern. In diesen Gedanken fand Belopolski Trost — ihr Tod war nicht umsonst. Für ihn stand fest, daß Melnikow seinem Befehl nicht zuwiderhandeln und etwa den sinnlosen Versuch unternehmen werde, in die Höhle einzudringen; nur neue Opfer konnten die Folge sein.
Auch Balandin hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden.
Allerdings aus einem anderen Grunde: Die Brandwunden an seinen Beinen machten ihm schwer zu schaffen, und er dachte beinahe zufrieden daran, daß er bald von den quälenden Schmerzen befreit sein würde. Die Pikrinsäure linderte seine Qualen nicht mehr, die Wunden waren fast schwarz geworden und eiterten. Der Professor war derart apathisch, daß er nur noch an die bevorstehende Erlösung von seinen furchtbaren Leiden dachte.
Der junge, gesunde Romanow konnte diese Ruhe nicht aufbringen. Er wollte leben und entwarf einen phantastischen Rettungsplan nach dem anderen. Belopolski hörte ihn aufmerksam an, zerstörte aber stets aufs neue seine Illusionen.
Die kühle Logik des Expeditionsleiters brachte Romanow zur Verzweiflung. Er wußte nicht, daß Konstantin Jewgenjewitsch längst alles bedacht hatte und als letztes versuchen wollte, gerade ihn zu retten. Zu diesem Zweck mußte er aber abwarten, bis die Venusianer ihre Drohung wahrmachen und die Gefangenen zu dem Bergsee schicken würden. Es war anzunehmen, daß sie die Menschen nicht veranlassen würden, aus dem Wagen auszusteigen, sondern diesen, wie sie es vorher ebenfalls getan hatten, tragen würden. Der Weg aber konnte nur am Fluß entlangführen.
Jedoch die Zeit verging, und die Venusianer unternahmen nichts. Belopolski fürchtete, er werde sein Vorhaben nicht mehr ausführen können. Der Sauerstoff würde vorher zu Ende gehen und Romanow so das Schicksal seiner beiden Begleiter teilen.