Ich hatte während der bisherigen Reisemonate, allenAnstrengungen und manchen kleinen Enttäuschungen zum Trotz, noch niemals einen Moment der inneren Schwäche, des ernstlichen Zweifels erlebt; kein erfolgreicher Feldherr, kein Vogel im Schwalbenzug nach Ägypten konnte seines Zieles, seiner Sendung, konnte der Richtigkeit seines Tuns und Strebens sicherer sein, als ich es auf dieser Reise war. Jetzt aber, an diesem verhängnisvollen Orte, während ich den ganzen blaugoldenen Oktobertag lang immer und immer die Rufe und Signale unsrer Wachen hörte, immer wieder die Rückkehr eines Boten, das Eintreffen einer Meldung mit wachsender Spannung erwartete, um immer wieder enttäuscht zu werden und ratlosen Gesichtern gegenüberzustehen, jetzt spürte ich zum erstenmal im Herzen etwas wie Traurigkeit und Zweifel, und je mehr diese Gefühle in mir stark wurden, desto deutlicher auch fühlte ich, daß es nicht bloß das Wiederfinden Leos war, woran ich den Glauben verlor, sondern es schien alles jetzt unzuverlässig und zweifelhaft zu werden, es drohte alles seinen Wert, seinen Sinn zu verlieren: unsre Kameradschaft, unser Glaube, unser Schwur, unsre Morgenlandfahrt, unser ganzes Leben.
Und sollte ich mich auch täuschen, wenn ich diese Gefühle bei uns allen voraussetze, ja sollte ich nachträglich mich über meine eigenen Gefühle und inneren Erlebnisse täuschen und vieles, was in Wirklichkeit erst viel später erlebt wurde, irrtümlich auf jenen Tag zurückverlegen — so bleibt doch trotz allem die wunderliche Tatsache mit Leos Reisegepäck bestehen! Das war nun in der Tat, über alle persönlichen Stimmungen hinaus, etwas Sonderbares, Phantastisches und zunehmend Beängstigendes: noch während dieses Tages in der Schlucht von Morbio, noch während unsres eifrigen Suchens nach dem Verschwundenen vermißte bald dieser, bald jener von uns irgend etwas Wichtiges, etwas Unentbehrliches im Gepäck, und nichts davon war aufzufinden, und bei jedem vermißten Stück stellte sich heraus, es müsse sich in Leos Gepäck befunden haben, und obwohl Leo, gleich allen unsern Leuten, nur den üblichen leinenen Trägersack auf dem Rücken gehabt hatte, einen einzigen Sack unter damals wohl dreißig ändern Säcken, schienen doch in diesem einen, nun verlorengegangenen Sack sich alle wahrhaft wichtigen Dinge befunden zu haben, die wir auf unsrer Reise mit uns führten! Und wenn es nun auch eine bekannte menschliche Schwäche ist, daß uns ein Gegenstand im Augenblick, wo wir ihn vermissen, übertrieben wertvoll und weniger entbehrlich scheint als jeder, den wir in Händen halten, und obwohl in der Tat mancher von jenen Gegenständen, deren Verlust uns damals in der Schlucht von Morbio so sehr beängstigte, entweder nachher doch wieder zum Vorschein kam oder sich am Ende eben als gar nicht so unentbehrlich erwies — trotz alledem ist es eben doch leider wahr, daß wir damals, mit durchaus berechtigter Beunruhigung, den Verlust einer ganzen Reihe von höchst wichtigen Dingen feststellen mußten.
Außerordentlich und unheimlich war ferner dies: