In den Süden, nach Freiburg und Bad Krozingen zu kommen bleibt ihm keine Zeit. Der gesamte Freundeskreis von Filipp ist in Berlin ansässig: Das sind seine Arbeitskollegen sowie die Kollegen im journalistischen Betrieb. Im Journalismus interessieren ihn die Politik (nicht als Beruf, sondern als Betrachtungsgegenstand) und die Psychologie der Menschen.
Auf der Suche nach Identität
…Das Web-Portal von Broder, Arbeit in einer der wenigen überregionalen deutschen Zeitungen: Lauter Glücksfälle und scheinbar zufällige Volltreffer stießen gleichsam von sich aus auf Filipp Piatov und drängten ihn nach vorn. Stimmt alles, doch seine Erfolge sind keinesfalls reine Zufälle: Sie gediehen auf einem gut vorbereiteten Boden. Wären seine Texte nicht so interessant, so eigentümlich überraschend und gewinnend, wäre ihm das Glück nicht so hold.
Das betrifft im gleichen Maße auch Filipps nächsten vermeintlichen Glückstreffer: die Veröffentlichung seines Buchs. Nachdem Filipp einen Artikel über die Militäroperation der israelischen Streitkräfte «Gegossenes Blei» in seiner «Die Welt» gedruckt hatte, kam 2013 ein Literaturagent auf ihn zu und fragte, ob er nicht Lust hätte, ein Buch zu schreiben.
Filipp war einverstanden und begab sich auf eine Reise durch ganz Russland, das sich über ganz Eurasien erstreckt, vom Baltikum bis Pazifik, über nicht weniger als 11 Zeitzonen! Der Text als solcher wurde in Berlin zusammengeschrieben, in der Stadt, die sein Opa 1945 befreite (aber auch der Oma konnte keiner den Schneid abkaufen, dem barfüßigen Partisanenmädchen!), in der Stadt, die für seinen Enkel zur Herzensheimat wurde. Eigentlich entstand sein Buch in den kleinen Berliner Cafés (etwa in «Anita Wronski» in Berlin-Mitte oder in «Zazza» in Kreuzberg).
Schließlich erschien 2014 im Berliner Verlag «dtv» ein 200 Seiten schweres Buch mit einem recht schwer übersetzbaren Titel «Russland meschugge». Die Gesichter von russischen Patrioten brauchen sich nicht zu verdüstern, denn Filipp schaut Russland durchaus mit Interesse an, mit Augen, die liebend und weinend zugleich sind.
Das ist ein Buch über die multiple Identität, die Filipp Piatov verlor und wiederfand: Deutscher, Russe, Jude oder, alles in einem, russischer Jude in Deutschland. Spannend ist, wie bereits der Titel des Buchs alle drei Facetten in sich vereint: die deutsche in der Sprache, die russische im Gegenstand und die jüdische im jiddischen Wörtchen des Titels.
Das Buch als Ganzes ist jedoch überdies noch ein Versuch, eine der Facetten seiner Identität für sich selbst zu klären, dabei handelt es sich um die am wenigsten vertraute und verständliche: um die russische. Geschrieben ist das Buch leicht, souverän und, was am wichtigsten ist, innerlich frei. Es enthält die Intention, den Zustand unterschiedlichster Menschen nachzuempfinden, ob es nun um deine Liebsten geht (wie die Eltern oder Großeltern), ob um die weniger vertraute oder um dich selbst mit deiner eigenen – geheimnisvollen – Persönlichkeit. Es ist witzig, aber im jüdischen oder russischen Umfeld kamen immer deutsche Züge zur Geltung, im deutschen dagegen russische oder jüdische.
Филип Пятов. Обложка книги Ф. Пятова / Umschlag des F.Piatov’s Buches
So kommt es zur Frage: Wenn man nun alles ist (dieses und jenes und drittes), ist das nicht dasselbe wie gar niemand zu sein? Kann ein Enkel zum Deutschen werden, wenn die Vorfahren eben dieser Deutschen seine Oma für tötungswürdig hielten und getötet hätten, wenn sie gewusst hätten, dass sie Jüdin ist? Kann ein Mensch zum Juden werden, dem dieses «jüdische Chaos», in dem er ein ganzes Jahr in Israel lebte, überhaupt nicht wesenseigen ist? Und kann jemand zum Russen werden, der so ganz und gar nicht begeistert von den Begriffen und Vorstellungen ist, die in Russland (und nicht nur im Kreml) herrschen, darunter vom russischen Freiheitsbegriff?..
Was nun? Ist es wohl so, dass der Jude, der sich als Russe in Deutschland wahrnimmt, gleichsam im gleichschenkligen Dreieck seiner eigenen Identität eingesperrt ist? Er prescht in eine der Ecken vor, kriegt da eins auf die Nase, was dann, in die anderen zwei Ecken drängen? Aber auch dort dasselbe: her mit deiner Nase, na bitte!..