Um vier Uhr morgens lag Charlotte Fauchet im Bett und starrte auf den schwachen roten Lichtschein an der Decke, den ihr digitaler Wecker warf. Um zwei Uhr hatte ein Albtraum sie geweckt. Sie hatte eine Leiche präpariert, dabei war ihr Skalpell immer wieder abgeglitten, bis sich die Leiche schließlich aufrichtete und sie der Unfähigkeit schalt. Seitdem lag sie wach, unsicher wegen der Flayley-Obduktion.
Albträume zu haben, sich unsicher zu fühlen, das sah ihr gar nicht ähnlich. Dank Moberly, diesem Vollidioten von einem Chef, hatte sie ein ziemlich dickes Fell entwickelt. Was Agent Pendergast – der so nett und freundlich wirkte – mit dem Mann gemacht hatte, war beängstigend und doch auf abartige Weise schicksalhaft. Er kam ihr vor wie die Art Racheengel, in dem man einen unerschütterlichen Freund haben würde – oder einen unerbittlichen Feind.
Fauchets Gedanken schweiften zurück zu ihrem Traum. Ganz offensichtlich hatte die Baxter-Autopsie ihr Selbstvertrauen erschüttert. Sie hatte bestätigt, dass es sich um Mord handelte. Aber hatte sie recht damit? Und was war mit Flayley? Hatte sie das Zungenbein der Frau gründlich genug untersucht? Und während Fauchet über jenen Moment nachdachte – das Erscheinen von Moberly, die Art und Weise, wie er sie beiseitegedrängt hatte, sein furchtbares Geschnippel im Hals der Leiche –, wurde ihr klar: Das Ganze hatte sie völlig aus dem Konzept gebracht und möglicherweise komplett die Konzentration verlieren lassen. Als sie die Untersuchung des Zungenbeins beendet hatte, war sie nervös gewesen und hatte dieser nicht ihre ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt. Möglicherweise hatte sie etwas übersehen.
Um halb fünf, nachdem sie es aufgegeben hatte, wieder einzuschlafen, stand sie schließlich auf, duschte, trank einen großen Becher Kaffee, stieg in ihren Wagen und fuhr in die Gerichtsmedizin. Die Nachtluft war noch mild. Zeiten wie diese gehörten zu den Gründen, weshalb sie Miami trotz all seinem Geglitzer, dem Verkehr, den Menschenmassen und der Kriminalität ertragen konnte.
In der Gerichtsmedizin war es ruhig und dunkel; als sie das Licht einschaltete, war sie kurz geblendet. Rasch zog sie die Leiche aus dem Schubfach und schob sie auf einer Rolltrage zum Obduktionssaal. Im Geist ging sie die forensische Checkliste durch. Als sie sich sicher war, dass alles bereit war, schaltete sie das Audio/Video-System ein und erklärte laut, was sie tat und warum.
Sie rollte das große Stereo-Zoom-Mikroskop heran, bis es über dem Hals positioniert war, und fing an, das Zungenbein erneut zu untersuchen. »Der »Körper« des Knochens, der Mittelteil, war ganz offensichtlich gebrochen – das hatte sie schon bei der ersten Obduktion festgestellt –, entweder, als Flayley am Ende des Seils gezappelt hatte, oder aber beim kurzen Fall von der Brücke. Keine Anomalien zu erkennen. Nun wandte Fauchet ihre Aufmerksamkeit den Hörnern des Zungenbeins zu. Das Zungenbein zählte zu den ungewöhnlichsten Knochen im menschlichen Organismus, weil es nicht mit anderen verbunden war – im Grunde schwebte es zwischen den Muskeln und Bändern, es sorgte für den Ansatz für die Zunge, den Mundboden, den Kehldeckel und die Rachenhöhle. Das Zungenbein besaß die Form eines Hufeisens, wobei das eine Horn größer als das andere war. Bei Baxter waren die Hörner symmetrisch gebrochen worden durch einen Druck-Würgegriff, das rechte Horn stärker als das linke, was darauf schließen ließ, dass eine rechtshändige Person beide Hände um den Hals gelegt und zugedrückt hatte, wobei der rechte Daumen den stärkeren Druck ausgeübt hatte. Aber hier war der Druck-Würgegriff – vorausgesetzt, es hatte einen gegeben – zu schwach gewesen, um den Knochen zu brechen. Sie hätte unbedingt ein MRT anfertigen lassen sollen, aber das hätte jede Menge Schriftkram und Zeit erfordert, von den vielen Fragen, die das aufgeworfen hätte, ganz zu schweigen.
Sie stellte die Vergrößerung des Mikroskops höher ein und fing mit dem rechten Zungenbeinhorn an, dabei entfernte sie die kleinsten Fitzelchen Gewebe und sah, wo Moberlys achtloses Geschnippel Spuren hinterlassen hatte. Ganz sanft präparierte sie das größere Horn frei und arbeitete sich nach hinten zu dem kleineren vor. Dabei ging sie mit äußerster Präzision vor, doch als sie die Basis des Zungenbeinhorns erreichte, hatte sie nichts Auffälliges gefunden. Dies war der Knochen, den der Mörder gebrochen hätte. Lohnte es sich, das linke Zungenbeinhorn auf die gleiche Weise frei zu präparieren?
Sie seufzte, dann setzte sie ihre Arbeit fort. Erst wenn sie alles versucht hatte, konnte sie ganz sicher sein.