Als sie das linke Zungenbeinhorn zu drei Vierteln freinpräpariert hatte, hielt Fauchet inne. War da etwas? Sie erhöhte die Vergrößerung um eine Stufe, und da sah sie ihn: einen ganz kleinen Riss an der Innenseite des Knochens. Eine Grünholzfraktur, bei der der Knochen sich eher biegt, als zu brechen, doch wurde in diesem Fall genügend Kraft aufgewandt, um eine kleine Stressfraktur auszulösen, die längsseits am ganzen Knochen entlang verlief statt quer darüber. Es handelte sich um einen äußerst feinen Riss, fast unsichtbar, so schwach, dass er mit einer gewöhnlichen Digitalkamera nicht sichtbar gemacht werden konnte. Im MRT allerdings würde die Fraktur deutlich zu erkennen sein.
Sie atmete aus. Special Agent Pendergast hatte recht gehabt. Er hatte sie gebeten, sich das Zungenbein ganz besonders genau anzuschauen, und das hatte sie getan, aber ihr war nichts aufgefallen. Wäre Moberly nicht hereingekommen, hätte sie die Fraktur am Ende vielleicht doch entdeckt. Aber Moberly hatte sie beiseitegeschoben, und sie hatte ihre Konzentration verloren … Fauchet schüttelte den Kopf. Im Grunde konnte sie Moberly keine Vorwürfe machen. Er mochte ein Blödmann sein, aber dass sie die Fraktur nicht erkannt hatte, dafür trug allein sie die Verantwortung und niemand sonst. Bei dem Gedanken, dass sie Agent Pendergast enttäuscht hatte, schoss ihr das Blut ins Gesicht.
Sie richtete sich auf, schalt sich ob ihres Selbstmitleids und machte sich wieder an die Arbeit. Sie war Wissenschaftlerin, da sollten Gefühle keine Rolle spielen. Sie beendete das Säubern und Freilegen des linken Zungenbeinhorns. Nachdem sie für das Aufzeichnungssystem alles beschrieben hatte, was sie gesehen hatte, stützte und schützte sie den frei präparierten Knochen sorgfältig mit Baumwollpads und einer Kompresse, packte die Leiche wieder ein, rollte sie zu ihrem Kühlfach und schob sie hinein. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch, um die nötigen Formulare für das MRT auszufüllen.
Es war seltsam, dass dieser Mord nicht so sauber ausgeführt worden war wie der an Baxter. Der Druck-Würgegriff war schwächer und hatte das Opfer nicht getötet, es lediglich halb bewusstlos gemacht. Die Frau war erst wirklich umgekommen, als sie von der Brücke hing und ein Zeuge sah, wie sie eine Zeit lang herumzappelte, bevor sie schließlich zu Tode kam. Merkwürdig war auch, dass diesmal das linke Zungenbeinhorn betroffen war, nicht das rechte. Vielleicht war der Mörder ja beidhändig.
Jedenfalls waren dies alles äußerst wichtige Informationen. Sie sah auf die Uhr: sieben. Pendergast würde schon wach sein – vermutlich war er Frühaufsteher. Sie zog eine Schublade auf und suchte in dem kleinen Stapel Visitenkarten, die sie im Rahmen ihrer Arbeit gesammelt hatte. Als sie Pendergasts Karte gefunden hatte, zog sie ihr Mobiltelefon hervor. Sie wollte ihn anrufen, ihren früheren Fehler einräumen und ihm ihre neue Entdeckung mitteilen.
30
Smithback trank seinen dritten Espresso aus, schnappte sich ein paar Granola-Riegel als Snacks für die Fahrt, dazu eine Pille gegen die verdammten Allergien, dann ging er hinunter in die Garage. Er startete den Subaru und drehte die Klimaanlage auf, holte sein Smartphone hervor, tippte Bronners Adresse ein und steckte das Gerät in die Armaturenbrett-Halterung. Er bog vorsichtig auf die Straße und machte sich auf den Weg, dirigiert von Siri.
Er hatte sich entschlossen, Bronner nicht im Voraus anzurufen. Es wäre für den Mann ein Leichtes gewesen, ihn am Telefon abzuwimmeln, und dann hätte Smithback ihm wenig entgegensetzen können. Besser, er kreuzte einfach auf, ließ seinen Charme spielen und kam mit dem Mann auf eine Art ins Gespräch, dass der ihn ins Haus ließ. Er versuchte, sich vorzustellen, wie Bill die Sache angegangen wäre. Es gab ja nur ein paar entscheidende Fragen, die er beantwortet haben wollte – die ganze Sache würde höchstens zehn Minuten dauern. Er hoffte inständig, dass Bronner inzwischen nicht debil war. Er musste in seiner aktiven Zeit jede Menge Patienten gehabt haben, und es war schon schwierig genug, sich nach elf Jahren an Flayley und Baxter zu erinnern, selbst mit einem hervorragenden Gedächtnis. Ob der alte Mann die Namen der Frauen in der Zeitung gelesen hatte?
Er spürte, dass ihm ein wenig bang zumute war, und rief sich in Erinnerung, dass er einer Spur folgte, auf die noch kein anderer gestoßen war.