Der morgendliche Berufsverkehr um Miami herum war so dicht und brutal wie üblich, doch als er auf die 826 kam, ließ der Verkehr allmählich nach, und er hatte freie Fahrt. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, die Route 1 und die Touristen darauf so lange wie möglich zu meiden, auch wenn er dafür die Maut am Reagan Turnpike zahlen musste. In Florida City fuhr er schließlich wieder auf die Route 1, und nach einer weiteren halben Stunde passierte er auch schon die Southern Glades und fuhr auf dem wunderschönen Causeway nach Key Largo. Die Adresse seines Ziels war typisch für diese Gegend: Buttonwood Lane. Dort besaß bestimmt jedes Haus mit gepflegtem Rasen drum herum einen eigenen Liegeplatz. Doch als er schließlich vor Ort eintraf, stellte er fest, dass die Gegend alles andere als vornehm war. Vielmehr bot sich seinem Blick ein heruntergekommenes Viertel mit trostlos wirkenden Häusern aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, Wohnmobilen und schäbigen Fischerbooten, die mit ZU VERKAUFEN-Schildern versehen waren.
Merkwürdige Wohngegend für einen Psychiater, zumal einem, der aus seiner ehemaligen Klinik bestimmt noch jede Menge Geld herauszog.
Das Haus lag am Ende der Buttonwood Lane, unmittelbar am Kanal, und bot eine weitere Überraschung. Es war ein großes, heruntergekommenes Gebäude mit weißem Gipsputz, der in Placken abfiel, und einem Dach aus Terrakotta-Schindeln, das nach dem letzten Hurrikan immer noch schief war. Es lag versteckt hinter einer Hecke aus tropischen Pflanzen, die aussah, als hätte sie seit Jahren keine Schere mehr gesehen. Das Haus eines Serienkillers? Oder einfach nur eines Grusel-Exzentrikers?
Vor der Auffahrt befand sich ein schmiedeeisernes Tor, weiß, mit Streifen aus orangefarbenem Rost. Smithback parkte den Wagen neben dem Tor, stieg aus und suchte nach einer Gegensprechanlage oder dergleichen, aber da war nichts. Das Tor war abgesperrt.
Verdammt, was für eine Art Haus mit Zaun und Tor besaß denn keine Gegensprechanlage oder wenigstens eine Klingel? Als er zwischen den Stäben hindurchspähte, sah er undeutlich einen türkisfarbenen Pick-up auf der Auffahrt, versteckt hinter einer Gruppe Bambusstauden. Jemand musste also im Haus sein.
Die Straße lag wie ausgestorben da. Smithback blickte den Zaun hinauf und hinunter – kein Problem. Er packte die Stäbe, zog sich mühelos hoch, schwang sich darüber und landete leichtfüßig auf der anderen Seite. Mit so viel Selbstbewusstsein, wie er aufbringen konnte, ging er mit langen Schritten die Auffahrt hoch, vorbei am Pick-up und zur Eingangstür. Er würde in dieser Sache nur einen Schuss haben, der musste also sitzen.
Er klingelte. Es folgte eine lange Stille – bis er Slipper auf dem Natursteinboden schlurfen hörte, als jemand langsam an die Haustür kam. Kurz darauf öffnete sich die Tür.
Smithback war davon ausgegangen, dass Bronner ein gebeugter, gebrechlicher, weißhaariger Typ mit Hornbrille sein würde. Der Irrtum hätte nicht größer sein können. Der Psychiater im Ruhestand war groß gewachsen, kräftig und nicht besonders alt – vielleicht fünfundsechzig. Die Kinnpartie war wildschweinhaft ausgeprägt, die Handrücken stark geädert und behaart. Während Bronner auf ihn herunterblickte, überkam Smithback das ungute Gefühl, dass mit dem Kerl irgendetwas nicht ganz stimmte.
»Dr. Bronner?«
»Wie sind Sie auf mein Grundstück gekommen?«
»Ich, ähm, bin über den Zaun geklettert.«
Daraufhin verdüsterte sich Bronners grobknochiges Gesicht, aber er sagte nichts.
»Ich bin der Bruder einer Patientin, die Sie vor Jahren behandelt haben, die unglückseligerweise Selbstmord begangen hat. Selbstverständlich tragen Sie keine Schuld daran«, fügte er hastig hinzu.
»Wer soll das sein?«
»Eine gewisse Agatha Flayley.«
Langes Schweigen. Langsam wurde Smithback mulmig zumute. Durch die offene Tür war das spärlich möblierte, ungepflegte Haus zu sehen.
»Schauen Sie, wenn es Ihnen jetzt zeitlich nicht passt«, sagte er und wich zurück. »Ich meine, wenn Sie beschäftigt sind –«
»Kommen Sie rein«, sagte Bronner, trat beiseite und öffnete die Tür etwas weiter.
Misstrauisch betrat Smithback das Haus. Es war so trostlos wie ein Gefängnis, aber zumindest hatte man einen Blick aufs Meer, das hinter einem Sichtschutz aus Knopfmangroven zu sehen war.
»Direkt am Strand«, sagte Smithback. »Nett.«
»Setzen Sie sich.«
Smithback nahm auf einem abgewetzten Sofa Platz.
»Ich erinnere mich an Agatha«, sagte Dr. Bronner langsam, setzte sich Smithback gegenüber und richtete den Blick auf ihn. »Sie hat mich konsultiert – wann war das? Vor dreizehn, vierzehn Jahren.«
»Erinnern Sie sich zufällig an das genaue Datum?«
Ein Blick in die Ferne. »Ja. Nicht genau, aber sie war zwei Jahre lang meine Patientin. 2005 und 2006, glaube ich. Ich habe keine Krankenakten hier im Haus, sie befinden sich in der Klinik. Sie unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht, es sei denn, Sie haben eine unterzeichnete Freigabe nach dem Datenschutzgesetz fürs Gesundheitswesen dabei.«