Abb. 6: Verkündigung des Wiener Schiedsspruchs durch Außenminister von Ribbentrop Am Tisch von rechts nach links: der ungar. Außenmin. v. Kanya, Chefdolm. Dr. Schmidt, Legationsrat Dr. Woermann, Außenmin. v. Ribbentrop, der ital. Außenmin. Graf Ciano, der tschech. Außenmin. Chvalkovski und der slowak. Min.Präs. Dr. Tiso
Am 2. November 1938 tritt daraufhin eine deutsch-italienische Schiedskommis-sion in Wien zusammen. Ungarn, Tschechen und Slowaken tragen ihre Positionen vor und das Schiedsgericht entscheidet. Ein von Westen nach Osten verlau-fender Gebietsstreifen im Süden der Slowakei mit einem Zipfel in der Karpato-Ukraine werden Ungarn zugeschlagen. Damit kommen 746.000 Ungarn heim ins Mutterland. Doch auch 75.000 Slowaken werden dadurch gegen ihren Willen nach Ungarn eingebürgert.
Mit dem Wiener Schiedsspruch ist nur die eine Minderheitenfrage einer Lösung zugeführt. Die zweite, die nach dem Münchener Abkommen ja auch noch offen ist, bleibt dabei ungelöst. Der Staat Polen stellt gleich nach der Annexion des Teschener Gebiets eine Reihe immer neuer Forderungen nach „polnischen“ Gebie-159 PAAA, R 29770, Blatt 760 76
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Karte 13: Die Landverluste der Tschechoslowakei nach dem Wiener Schiedsspruch ten. Doch dabei handelt es sich neben einem Streifen Grenzland vor allem um Gebiete mit Kohlevorkommen und Chemischer Industrie. Die polnischen Gebietsansprüche, die erkennbar mehr nach fremden Bodenschätzen als nach eigenen Minderheiten trachten, werden beim Wiener Schiedsgericht nicht mitverhandelt. So bleibt die Frage der polnischen Minderheit in der Tschechoslowakei auch weiter ungelöst. Und damit ist der im Münchener Abkommen vorgesehene Zeitpunkt für eine Garantie der Italiener und der Deutschen zu den neuen Grenzen der Tschechoslowakei noch immer nicht gekommen.
Nun bahnt sich – darauf soll hier besonders hingewiesen werden – der baldige Bruch der bisher vertraglichen deutsch-polnischen Beziehungen an. Während des ganzen Oktobers 1938 versucht Polen, den Zerfall der Tschechoslowakei mit Deutschlands Hilfe zu beschleunigen., die Slowakei mit Teilen ihrer Industrie und Bodenschätze zu beerben und die Karpato-Ukraine den Ungarn zuzuschie-ben. Letzteres will Polen, um bei einem Krieg mit Rußland die Unterstützung der Ungarn an der eigenen Hintertür zu haben. Für die Polen sind die Tschechen und Slowaken nicht Partner, sondern im Falle einer Auseinandersetzung mit den Sowjets die Verbündeten des potentiellen Gegners, und zwar im eigenen Rücken.
Am 24. Oktober, bei einem der Gespräche, das der polnische Botschafter Lipski zu diesem Zwecke mit Außenminister von Ribbentrop in Berlin führt, bringt der ein neues Thema aufs Tapet. Von Ribbentrop eröffnet Lipski, daß Hitler in ab-172
sehbarer Zeit die Rückgliederung Danzigs an das Deutsche Reich wünscht. Das hätte zu der Zeit durchaus ein Handel werden können, Danzig gegen ein Stück der Tschechoslowakei. Doch der Wiener Schiedsspruch läßt die Wünsche Polens außen vor. Hier ist eine Chance verpaßt, das Streitobjekt Danzig, das ein Jahr danach den Krieg auslöst, im Zuge eines „Handels“ aus der Welt zu schaffen.
Ab dem 24. Oktober 1938 ist das Thema Danzig zwischen Berlin und Warschau auf dem Tisch.
Die „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938
In dieser in Europa ohnehin so angespannten Lage ereignet sich ein Drama, das für Deutschland ein dauerhafter Schandfleck bleiben und schwere Folgen haben wird. Das Ereignis gehört zu diesem Teil der Vorkriegsgeschichte, weil es das englisch-amerikanisch-deutsche Verhältnis nachhaltig belastet.
Zeitgleich mit der Verfolgung deutscher Juden herrscht ein starker Antisemitismus auch in Polen. Während in den Jahren von 1933 bis 1938 170.000 deutsche Juden ihr eigenes Land verlassen und im Ausland Rettung vor Verfolgung suchen, strö-