„ihren“ Deutschen seit 1918. Die Regierungschefs Englands, Frankreichs und Italiens setzen ihre Unterschriften in München nicht alleine unter den Vertrag, um Kriegsgefahr zu bannen. Sie unterzeichnen dies Abkommen im September 1938 über die Köpfe der Tschechen hinweg auch deshalb, weil sie nur zu gut wissen, daß die Tschechen sich die Gebiete der Sudetendeutschen 1918 ohne Rechtstitel, mit der Gewalt der Waffen angeeignet haben. Sie haben zur Kenntnis nehmen müssen, daß die Tschechen und Slowaken den Deutschen und Ungarn die in Saint-Germain versprochenen und in der Verfassung von 1920
festgeschriebenen Minderheitenrechte niemals völlig zugestanden haben. Sie wissen, daß die beiden Titularnationen die Sudetendeutschen als Bürger ihres Staates persönlich, wirtschaftlich und politisch diskriminiert haben, und daß sie nie versucht haben, die Deutschen als ihre zweitstärkste Bevölkerungsgruppe gleichberechtigt in ihren neuen Staat zu integrieren.
Zu den Folgen des Münchener Abkommens ist noch nachzutragen, daß eine Gruppe hoher deutscher Generale158 vor der Konferenz von München Vorbereitungen getroffen hatte, Hitler festzunehmen und vor Gericht zu stellen, falls er wegen der Sudeten einen Krieg vom Zaune brechen sollte. Der Verhandlungssieg 157 Siehe Nawratil, Seite 89. Die in der sonstigen Literatur angegebenen Zahlen über die bei der Vertreibung umgekommenen Sudetendeutschen schwanken zwischen ca. 30.000 in tschechischen Verlautbarungen und 400.000 nach Angaben des Statistischen Bundesamts 158 Es handelt sich um die Generale Adam, Beck, Graf Brockdorff-Ahlefeldt, Halder, Hoeppner, Ulbricht und von Witzleben
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von München läßt den Putschversuch ins Leere laufen und gibt Hitler einen Nimbus, der dazu führt, daß ähnliche Versuche in den folgenden fünf Jahren nicht mehr unternommen werden. Nach München bleibt zunächst das Rätsel offen, ob Hitler mit dem Wehrmachtsaufmarsch in Richtung Tschechoslowakei Krieg führen oder alle Gegner bluffen wollte. Dies wirkt ein Jahr später nach, als die deutschen Generale und die Spitzendiplomaten beim Wehrmachtsaufmarsch gegen Polen bis zum Schluß nicht wissen, ob Hitler angreifen oder nur mit Bluff eine Verhandlungs- beziehungsweise Zugeständnislösung in der Danzig-Frage will.
Der Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938
Nach der Münchener Konferenz bleibt zunächst das Problem der polnischen und ungarischen Minderheiten offen, zu dessen Lösung die vier Mächte sich drei Monate Zeit gelassen hatten.
Am 1. Oktober beginnen die deutschen Truppen, das Deutschland zuerkannte Sudetenland zu besetzen. Am gleichen Tage marschieren die Polen in das ihnen zu der Zeit noch nicht zugesprochene Teschener Gebiet. Am 14. Oktober wird ein Drittel der deutschen „Einmarschtruppe“ wieder abgezogen. Neben diesen schnell geschaffenen Fakten läuft ein heftiges Zerren um die zwei noch offenen Minderheitenfragen. Die Warschauer Regierung versucht ihre weiteren Interessen in der Tschechoslowakei mit Hilfe des deutschen Hebels und mit ungarischer, rumänischer und slowakischer Hilfe durchzusetzen. Die Regierung in Budapest dagegen verhandelt mit der zuständigen Regierung in Prag. Zunächst die Ungarn:
Gleich zu Beginn des Oktobers 1938 treffen sich zwei Delegationen aus Prag und Budapest, um die Minderheitenrechte der Ungarn und einen neuen Grenzverlauf zu regeln. Nach fast zwei Wochen werden die Verhandlungen ergebnislos beendet. Der italienische Staatschef Mussolini, der sich nach wie vor als der Patron der Ungarn fühlt, und der seinen Einfluß dort nicht schwinden sehen möchte, drängt nun die deutsche Reichsregierung, helfend einzugreifen. Mussolini fürchtet, daß das Ungarnproblem in der Tschechoslowakei binnen dreier Monate anders nicht zu lösen ist, und er will vermeiden, daß dann die dafür vorgesehene nächste Viererkonferenz zusammentritt. Dort könnten England und Frankreich zu Lasten Ungarns und zugunsten der Tschechen und Slowaken Einfluß nehmen. Berlin und Rom üben daraufhin gemeinsam Druck auf Prag und Budapest aus, bald eine Einigung zum Schicksal der ungarischen Minderheit und zum neuen Grenzverlauf zu finden. Die Regierungen in Budapest und Prag erklären daraufhin am 30.
Oktober, daß sie bereit sind, im voraus einen Schiedsspruch anzuerkennen, den Deutschland und Italien zum Streit der beiden Staaten fällen werden.
Mussolinis England-Ängste sind in diesem Falle offensichtlich unbegründet. Die britische Regierung zeigt kein Interesse an dem Streit Ungarns und der Tsche-170
choslowakei. Sie selbst empfiehlt der italienischen Regierung, die Minderheits-frage durch ein deutsch-italienisches Schiedsgericht ohne Hinzuziehung der Regierungen in London und Paris zu lösen159.