men 557.000 polnische Juden von Ost nach West, um in Deutschland den Verfolgungen in Polen zu entkommen160. Die Reichsregierung versucht, Tausende der armen Flüchtlinge zurück nach Polen abzuschieben, doch dort sind sie inzwischen ausgebürgert und werden nicht mehr in ihr Land gelassen. Ein 18 Jahre alter Jude namens Grynszpan will die Aufmerksamkeit der Welt durch eine spektakuläre Tat auf das schlimme Schicksal seiner Glaubensbrüder lenken. Er erschießt, um dies zu tun, in der deutschen Botschaft in Paris einen ebenfalls noch jungen deutschen Diplomaten, den Legationssekretär vom Rath, und läßt sich dann verhaften. Das ist nach der Ermordung des Deutschen Wilhelm Gustloff, des Führers der Auslandsdeutschen in der Schweiz, durch einen Juden das zweite Attentat in dieser Art. Der Mord an Ernst vom Rath entfesselt im Deutschen Reich ein Feuer der Entrüstung. Am Tag nach der Tat Grynszpans brennen in Deutschland Hunderte von Synagogen. Jüdische Geschäfte werden zerstört, selbst Wohnungen geplündert. Die Nacht dieses schändlichen Pogroms vom 9. auf 10. November 1938 er-hält die makabere Bezeichnung „Reichskristallnacht“. Kurz nach dem furchtbaren Ereignis werden weitere antijüdische Gesetze im Deutschen Reich erlassen.
Die Wirkung auf das Ausland ist verheerend. Der Argwohn der Amerikaner, Engländer und Franzosen gegen das nationalsozialistische Deutschland erhält neue Nahrung. In England und Amerika kommt zum ohnehin vorhandenen
Mißtrauen gegenüber den außenpolitischen Zielen Deutschlands die offene Ablehnung des hier gezeigten Unrechts an den Juden. Die Folgen lassen auch nicht lange auf sich warten. US-Präsident Roosevelt beruft den Botschafter der Vereinigten Staaten aus Berlin ab. Die Reichsregierung reagiert mit der Abberufung ihres Mannes aus Washington. Damit ist der Faden zwischen Berlin und Wash-160 Benoist-Méchin, Band 7, Seite 39
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ington zerschnitten. Was auf Dauer schwerer wiegt, ist Roosevelts Bemühen, seine Gangart gegenüber Deutschland zu verschärfen. Er schlägt dem Kongreß ein neues Verfahren vor, das auf die Ablösung des bisherigen „cash- and carry“-
Systems zur Lieferung von Kriegswaffen an England und Frankreich auf ein
„lend- and lease“-System hinausläuft161. Auch wenn Roosevelts Vorschlag im Kongreß noch keine Mehrheit findet, so ist die neue Richtung damit vorgezeichnet. Des weiteren übt er Druck auf Kongreß und Industrie aus, die laufenden Rüstungsvorhaben zu beschleunigen. Mit der „Reichskristallnacht“ findet die Neutralitätspolitik Amerikas den Anfang ihres Endes.
Eine der späteren Folgen dieses Wandels in den USA ist die Verhärtung der Fronten im Streit um Danzig im Sommer 1939. Die Regierungen in Warschau, London und Paris erfahren umgehend aus Roosevelts politischer Umgebung, daß der US-Präsident der Herrschaft Hitlers und der NSDAP im Deutschen Reich ein Ende setzen und aus diesem Grunde Krieg mit Deutschland führen will. So erklärt der US-Botschafter in Paris, William Bullitt, am 19. November 1938, nur wenige Tage nach der „Reichskristallnacht“, während eines Aufenthalts in Washington seinem dortigen polnischen Kollegen, Graf Potocki,:
Potocki, der dieses am 21. November brühwarm nach Warschau meldet, berichtet, daß Bullitt auf seine Frage, ob sich Amerika an einem Krieg gegen Deutschland beteiligen werde, geantwortet habe:
Mit einer solchen Erklärung im Rücken haben die Polen und die sie unterstützenden Engländer und Franzosen eine gute Aussicht, daß ein Krieg um Danzig mit der Waffenhilfe Amerikas zur Niederlage Deutschlands führen wird. Ein Grund mehr, 1939 in der Danzig-Frage nicht das kleinste Stückchen nachzugeben.
Die Frage, die sich hier trotz all der schlimmen Verfolgung der Juden in Deutschland stellt, ist, warum sich US-Präsident Roosevelt und mit ihm offensichtlich die amerikanische Nation nicht mit der gleichen Vehemenz und Strenge gegen die ihnen ebenfalls bekannte Drangsalierung der Juden im Staate Polen wenden, und warum sie die Diktatur in diesem Lande akzeptieren. Es fragt sich auch, warum Botschafter Bullitt seinem polnischen Kollegen gegenüber schon 1938 von der