Ansonsten sind die Monate vor dem Zerfall der Tschechoslowakei und vor dem Einmarsch in die Rest-Tschechei davon geprägt, daß Englands Presse gegen das Abkommen von München zu Felde zieht, und daß Winston Churchill nicht mü-
de wird, gegen das Deutsche Reich zu trommeln. Dementsprechend reagiert die deutsche Presse zunehmend anti-englisch. Im Dezember 1938 und im Januar danach laufen außerdem in England Gerüchte um, von denen niemand weiß, woher sie stammen. Es heißt, Deutschland wollte Holland und die Schweiz erobern, die Ölfelder Rumäniens besetzen, London bombardieren und anderes der-gleichen171. So wird die öffentliche Meinung in England schon auf Temperatur gebracht, noch ehe irgendjemand in Deutschland Grund hat, über solches nachzudenken. Im übrigen wird in Deutschland, Frankreich, England, in den USA, in der Sowjetunion und in der Tschechoslowakei um die Wette weiter aufgerüstet.
Der Zerfall der Tschechoslowakei
Die Trennung der deutschsprachigen Bevölkerung vom Staat der Tschechen und Slowaken nach der Konferenz von München löst das Problem nicht, das dieser Staat seit seiner Gründung hat. Den Slowaken, Ungarn, Polen und Ruthenen (Ukrainern) sind 1919 in der Vereinbarung von Pittsburgh und im Minderheiten-abkommen von Saint-Germain Rechte zugesprochen worden, die sie nun – wie jetzt die Sudetendeutschen – endlich haben wollen.
Am 4. Oktober 1938 tritt Staatspräsident Beneš, der die Tschechenherrschaft im Vielvölkerstaat der Tschechoslowakei geschaffen hatte, von seinem Amt zurück.
Ihm folgt Ministerpräsident General Syrovy, der nun für kurze Zeit die beiden Spitzenämter innehat. Am 29. November 1938 wird Dr. Hacha nach General Syrovy vierter Präsident der Tschechoslowakei. Er ist Verwaltungsjurist und bis dahin ohne politische Tätigkeit und Ambitionen und auch ohne die dem Amt entsprechenden Erfahrungen. Ehe Dr. Hacha als Staatspräsident und Syrovy als Ministerpräsident die Zeit finden, das Land neu zu gestalten, driften die im Staat verbliebenen Völker von selber auseinander. Nach der Abtrennung der Sudetenlande, der Annexion des Teschener Gebiets durch Polen, dem Wiener Schiedsspruch und der Wiedereingliederung der Ungarn in ihr Mutterland gehören nur noch sechseinhalb Millionen Tschechen sowie zwei Millionen Slowaken, knapp eine halbe Million Ruthenen und kleine Minderheiten zum Rest der Tschechoslowakei. Dieser Rumpf soll, so ist es zwischen Tschechen, Slowaken und Ruthenen vereinbart worden, nun zu einem Bundesstaat mit innerer Autonomie für die drei Völker umgestaltet werden.
170 Paul Karl
Schmidt, Seite 74 und ADAP, Serie D, Band VI, Dokument 602171 Henderson, Seite 183
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Am 4. Oktober 1938 beschließen die Ruthenen und am 9. die Slowaken, eigene Landesparlamente aufzustellen und damit ihre Rolle in dem neuen Bundesstaate selber zu gestalten. In Preßburg werden ein provisorischer Landtag und eine vorläufige Landesregierung für die Slowakei und in Užgorod gleichfalls ein solcher Landtag und eine solche Landesregierung für die Karpato-Ukraine gebildet. Die vorläufige Landesregierung für die Slowakei führt ein Monsignore Dr. Tiso, die für die Karpato-Ukraine ebenfalls ein geistlicher Herr, Monsignore Dr. Woloschin. Als die zwei Präsidenten der neuen „Bundesländer“ allerdings die ersten Landtagswahlen halten lassen, setzen Schwierigkeiten ein.
In der Wahl der Ruthenen am 2. Februar 1939 bestätigen 92% der Wähler Woloschin in seinem Amt und die von ihm geforderte innere Autonomie für die Karpato-Ukraine. Drei Wochen später, am 23. Februar, fällt die Wahl mit 98% für Ti-so und die Autonomie sogar noch deutlicher aus. Nun fürchten Dr. Hacha und die tschechischen Minister seines Kabinetts, daß auch der Rest der Republik in seine Teile auseinanderbrechen könnte. Am 6. März läßt Hacha deshalb tschechische Truppen unter General Prchala in die Karpato-Ukraine einmarschieren und ernennt, ohne das neue Ruthenen-Parlament zu fragen, den General zum dortigen Innen-, Finanz- und Verkehrsminister. Ministerpräsident Woloschin ist damit als Regierungschef der Karpato-Ukraine schon entmachtet, kaum daß er sein erstes ruthenisches Landeskabinett hat bilden können.
Der Slowakei geht es nicht besser. Am 10. März entläßt Hacha Monsignore Tiso als Minister für slowakische Angelegenheiten aus der noch gemeinsamen Staats-regierung der Tschechoslowakei und mit ihm drei weitere slowakische Minister.
Damit ist die Herrschaft der Tschechen über die Slowaken, die Ruthenen und die Minderheiten im Gesamtstaat wieder hergestellt. Am 10. März löst Dr. Hacha außerdem den frisch gewählten Landtag der Slowaken wieder auf. Er läßt Preß-
burg von tschechischem Militär besetzen, die slowakischen Milizen durch tschechische Polizei ersetzen172, die Post- und Bahnverbindungen ins Deutsche Reich einstellen und ein paar als Separatisten bekannte Landesparlamentarier verhaften.