Die Unterredung zwischen beiden Männern ist erregt und zum Schluß unfreundlich heftig. Als Henderson sieht, daß er Hitler nicht zu einer Terminverschiebung bewegen kann, fragt er zum Schluß der Notenübergabe, ob ein polnischer Unterhändler, der nach Berlin käme, freundlich empfangen würde und ob die Verhandlungen auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung geführt würden.
Hitler sichert beides zu. Er stellt außerdem in Aussicht, ein neues Angebot für Polen vorzubereiten.
Nach dem Besuch bei Hitler bittet Henderson sofort den polnischen Kollegen Lipski zu sich in die englische Botschaft. Er informiert ihn über das Gespräch mit Hitler und den Inhalt des Briefs an Chamberlain. Der Brite bietet gegenüber seinem polnischen Kollegen alle Überredungskunst auf, zu der er fähig ist, und dringt händeringend auf die sofortige Entsendung eines bevollmächtigten Unterhändlers von Warschau nach Berlin. Dann ruft Henderson seinen französischen und seinen italienischen Botschafterkollegen in Berlin an, setzt sie schnell ins Bild und bittet beide, sie möchten unverzüglich die Regierungen in Paris und Rom anrufen und ihnen eine sofortige Intervention in Warschau anraten. Das 330 Wiedergabe des folgenden Gesprächs nach Benoist-Méchin, Band 7, Seiten 473 f 486
polnische Außenministerium, so drängt Henderson, sollte schnellstmöglich einen zu Verhandlungen bevollmächtigten Unterhändler nach Berlin entsenden.
Dann erst, um 21 Uhr, wendet sich Henderson per Telegramm an Minister Halifax in London. Er kündigt Hitlers Brief an, den er vor Übersendung noch in Englisch übersetzen lassen will. Vorinformierend – weil die Zeit drängt – weist er darauf hin, daß Hitler morgen, am 30. August, einen bevollmächtigten Unterhändler Polens in Berlin erwartet. Er teilt auch schon mit, daß Hitler die Bedingungen des letzten Halifax-Vorschlages akzeptiert hat, und daß die Note aus Berlin zum Ausdruck bringt, daß die deutschen Vorschläge nie zum Ziele hatten, die vitalen Interessen Polens einzuschränken.331 Eine Stunde später schickt Henderson die übersetzte Hitler-Antwort hinterher. Im Begleittext zum Hitler-Brief bringt er es auf den Punkt:
Henderson ringt offensichtlich ehrlich um den Frieden.
In Warschau beraten derweil Außenminister Beck, Verteidigungsminister Kasprzycki und der Oberbefehlshaber der Streitkräfte Marschall Rydz-Śmigły. Ihr Ergebnis: in der Danzig-Frage wird nicht nachgegeben, und Polen muß der deutschen Forderung militärisch widerstehen. Ein Entschluß zu verhandeln, wie von den Briten dringend angeraten, kommt nicht zustande. Am Nachmittag tritt der Ministerrat zusammen und beschließt, für morgen, den 30. August, die Allgemeine Mobilmachung offiziell bekanntzugeben.333 Beide Länder, sowohl Polen als auch Deutschland, haben das wegen der demonstrativen Wirkung dieses Schrittes bisher tunlichst unterlassen.
Der französische Botschafter und der englische, die unbedingt verhindern wollen, daß der Krieg im letzten Moment doch noch von Polen provoziert wird, protestieren sofort im polnischen Außenministerium gegen den Beschluß, öffentlich mobil zu machen. In Paris und London erwartet man jetzt Verhandlungen und nicht Eskalation aus Warschau. Wenn Warschau jetzt den Krieg auslöst und nicht Berlin, ist kein Bündnisfall gegeben, und Paris und London hätten völkerrechtlich keine Legitimation, mit Deutschland abzurechnen. Der Protest der zwei Botschafter kann nicht das verhindern, was verhindert werden sollte. Noch um etwa 18 Uhr versichert der polnische Außenminister dem britischen Botschafter Kennard, daß die Generalmobilmachung geheimgehalten werden kann.334 Doch schon eine Stunde später gibt er zu, daß das nun nicht mehr möglich ist. Außenminister Beck hängt dem Geständnis die schicksalsschwere Frage an:
331 Documents Brit. Foreign Policy, Third Series, Volume VII, Document 490
332 Documents Brit. Foreign Policy, Third Series, Volume VII, Document 493
333 Benoist-Méchin, Band 7, Seite 478
334 Documents Brit. Foreign Policy, Third Series, Volume VII, Document 475
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