Er versucht statt dessen – mit Noten hin und Noten her – im Interesse Polens Zeit zu gewinnen. Ihm geht es nicht um Danzig und um Minderheitenfragen. Ihm geht es darum, daß Hitler seit drei Jahren mit Drohungen dem Ausland gegen-
über durchsetzt, was er für richtig hält. Chamberlain will Hitler „zähmen“. So verbaut er eine der letzten Chancen, die der Frieden hat, indem er die Vermittle-rei so in die Länge zieht, bis Hitlers „Stichtag“ kommt. Chamberlain wartet, bis Hitler das Gesicht oder die Geduld verliert. Er läßt den 30. August mit Friedensbeteuerungen und diplomatischem Taktieren verstreichen, statt im Sinne eines Maklers zielstrebig zu vermitteln. Hitler und Chamberlain sind an diesem Tag auf der Schwelle zum Krieg beide die Gefangenen ihrer Erfahrungen der letzten Jahre. Hitler weiß, daß die Siegermächte dem Deutschen Reich seit 1920 so gut wie keine Zugeständnisse zur Verbesserung der Lage nach dem Krieg gemacht haben. Alles bisher Erreichte ist durch Eigenmächtigkeit oder durch die Androhung von Gewalt erstritten worden. Chamberlain weiß, daß das so gewesen ist, und daß er nun keine weiteren Zugeständnisse unter Drohung dulden darf.
Vielleicht denkt sich mancher Engländer an diesem Tag, was Churchill kurz vor Hitlers Amtsantritt am 24. November 1932 in einer Unterhausrede ausgesprochen hat:
Der letzte Tag vor Kriegsausbruch, Donnerstag, 31. August
Das soeben erwähnte mitternächtliche Treffen von Botschafter Henderson und Minister von Ribbentrop wird entgegen beider Absicht zum Desaster. Die Nerven der zwei Männer liegen nach so vielen Verhandlungsnächten in der letzten Woche blank. Henderson überreicht die Antwortnote Chamberlains vom 30. August, 18.50 Uhr.355 Er fügt dem Brief zwei mündliche Erklärungen hinzu. Die erste betrifft die beiderseitige Zurückhaltung, die nun erwartet werde. Er sagt, man könne von der polnischen Regierung nur eine völlige Zurückhaltung erwarten, wenn die Provokationen durch die deutsche Minderheit in Polen aufhörten. Es seien Berichte im Umlauf, nach denen die Deutschen in Polen Sabotageakte ver-
übten, die die schärfsten Gegenmaßnahmen seitens der polnischen Regierung rechtfertigten. Von Ribbentrop verliert die Beherrschung und entgegnet, daß die 354 Kern, Seite 82
355 Das folgende Gespräch ist der Niederschrift des Chefdolmetschers, Dr. Schmidt, entnommen. Siehe ADAP, Serie D, Band VII, Dokument 461
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unerhörtesten Sabotageakte von den Polen ausgingen. Im Auswärtigen Amt lägen allein Berichte über 200 Morde an Volksdeutschen in Polen vor. Das Gespräch wird frostig.