Auch in früheren Jahren schon hatte ich ähnliche Stunden ausgekostet. Damals war jede solche Verzweiflung mir so erschienen, als sei ich, verirrter Pilger, am äußersten Rande der Welt angelangt, und es sei jetzt nichts mehr zu tun, als der letzten Sehnsucht zu folgen: sich vom Rande der Welt ins Leere fallen zu lassen, in den Tod. Mit der Zeit war die Verzweiflung zwar oftmals wie — dergekehrt, der heftige Drang zum Selbstmord aber hatte sich verwandelt und war beinahe erloschen.
Es war mir der »Tod« kein Nichts mehr, keine Leere, keine Negation. Es war auch vieles andre anders geworden. Die Stunden der Verzweiflung nahm ich jetzt so, wie man starke körperliche Schmerzen nimmt: man erduldet sie, klagend oder trotzig, man fühlt, wie sie schwellen und zunehmen, und spürt eine bald wütende, bald spöttische Neugierde, wie weit das noch gehen, wie hoch der Schmerz sich noch steigern könne.
Aller Verdruß meines enttäuschten Lebens, das seit meiner einsamen Rückkehr von der mißlungenen Morgenlandfahrt immer wertloser und mutloser geworden war, aller Unglaube an mich selber und meine Fähigkeiten, alle neidisch-reuige Sehnsucht nach den guten und großen Zeiten, die ich einst erle bt hatte, wuchsen als Schmerz in mir an, wuchsen hoch wie ein Baum, wie ein Berg, dehnten mich, und bezogen sich alle auf meine derzeitige Aufgabe, auf meine begonnene Geschichte der Morgenlandfahrt und des Bundes. Es schien mir jetzt nicht mehr die Leistung selbst wünschenswert oder wertvoll. Wertvoll schien mir nur noch die eine Hoffnung: durch meine Arbeit, durch meinen Dienst am Gedächtnis jener hohen Zeit mich selbst etwas zu reinigen und zu erlösen, mich wieder in Verbindung mit dem Bund und dem Erlebten zu bringen.
Zu Hause machte ich Licht, setzte mich in den nassen Kleidern, den Hut auf dem Kopf, an den Schreibtisch und schrieb einen Brief, schrieb zehn, zwölf, zwanzig Seiten der Klage, der Reue, der flehentlichen Bitte an Leo. Ich schilderte ihm meine Not, ich beschwor in ihm die Bilder des gemeinsam Erlebten, der gemeinsamen Freunde von einst, ich klagte ihm die unendlichen, teuflischen Schwierigkeiten, an welchen mein edles Unternehmen scheiterte. Verflogen war die Müdigkeit der Stunde, glühend saß ich und schrieb. Trotz allen Schwierigkeiten, schrieb ich, würde ich lieber das Schlimmste erdulden, als ein einziges von den Bundesgeheimnissen verraten. Und ich würde nicht nachlassen, trotz allem, mein Werk zu vollenden, zum Gedächtnis der Morgenlandfahrt, zur Verherrlichung des Bundes. Wie im Fieber malte ich Seite um Seite voll eiliger Buchstaben, ohne Besinnung, ohne Glauben, die Klagen, Anklagen, Selbstanklagen stürzten aus mir heraus wie Wasser aus einem brechenden Krug, ohne Hoffnung auf Antwort, nur aus Drang nach Entladung.
Noch in der Nacht brachte ich den konfusen, dicken Brief zum nächsten Postkasten.
Dann endlich, es war schon beinahe Morgen, drehte ich mein Licht aus, ging in die kleine Schlafmansarde neben meinem Wohnzimmer und legte mich zu Bett. Ich schlief sofort ein und schlief sehr schwer und lange.
V
Anderntags, als ich, nach mehrmaligem Erwachen und Wiedereinschlummern, mit Kopfschmerzen, aber ausgeruht wieder zu mir kam, fand ich im Wohnzimmer zu meiner unendlichen Überraschung, Freude und auch Verlegenheit Leo sitzen. Auf der Kante eines Stuhles saß er und sah aus, als warte er schon recht lange.
»Leo«, rief ich, »sind Sie gekommen?«
»Man hat mich nach Ihnen geschickt«, sagte er.
»Es ist vom Bunde. Sie haben mir ja einen Brief deswegen geschrieben, ich habe ihn den Oberen gegeben.
Sie werden vom Hohen Stuhl erwartet.
Können wir gehen?«
Bestürzt beeilte ich mich, meine Schuhe anzuzie — hen. Der unaufgeräumte Schreibtisch hatte von der Nacht her noch etwas Verstörtes und Wüstes, im Augenblick wußte ich kaum mehr, was ich vor Stunden dort so angstvoll und heftig hingeschrie — ben hatte. Immerhin, es schien nicht umsonst gewesen zu sein. Es war etwas geschehen, Leo war gekommen.
Und plötzlich begriff ich erst den Inhalt seiner Worte. Also es gab noch einen »Bund«, von dem ich nichts mehr wußte, der ohne mich existierte und mich nicht mehr als zugehörig betrachtet hatte! Es gab noch den Bund, den Hohen Stuhl, es gab die Oberen, sie hatten nach mir geschickt!
Heiß und kalt überlief es mich bei der Nachricht.
Da hatte ich Monate und Wochen in dieser Stadt gelebt, beschäftigt mit meinen Aufzeichnungen über den Bund und unsre Fahrt, hatte nicht gewußt, ob und wo etwa noch Reste dieses Bundes bestünden, ob nicht vielleicht ich sein letztes Überbleibsel sei; ja, offen gestanden war ich zu gewissen Stunden nicht einmal dessen sicher gewesen, ob der Bund und meine Zugehörigkeit zu ihm je — mals Wirklichkeit gewesen seien. Und jetzt stand da Leo, abgesandt vom Bund, um mich zu holen.