Endlich war es still geworden, und es trat der Sprecher vor. Allein und klein stand ich dem Hohen Stuhle gegenüber, auf alles gefaßt, voll tiefer Angst, aber ebenso voll tiefen Einverständnisses mit dem, was hier geschehen und beschlossen werden würde.
Hell und ruhig klang die Stimme des Sprechers durch den Saal. »Selbstanklage eines entlaufenen Bundesbruders«, hörte ich ihn ankündigen. Mir zitterten die Knie. Es ging mir ans Leben. Aber es war gut so, es mußte nun alles in Ordnung kommen.
Der Sprecher fuhr fort.
»Sie heißen H. H.? Waren mit beim Marsch durch Oberschwaben, beim Fest in Bremgarten? Haben kurz nach Morbio Inferiore Fahnenflucht begangen?
Sind geständig, eine Geschichte der Morgenlandfahrt schreiben zu wollen? Halten sich darin für gehindert durch Ihr Gelübde des Schweigens über Bundesgeheimnisse?«
Frage um Frage beantwortete ich mit Ja, auch die mir unverständlichen und entsetzlichen.
Eine kleine Weile verständigten sich die Oberen durch Flüstern und Gebärden untereinander, dann trat aufs neue der Sprecher vor und verkündete:
»Selbstankläger wird hiermit ermächtigt, jedes ihm bekannte Bundesgesetz und Bundesgeheimnis öffentlich mitzuteilen. Es wird ihm außerdem das gesamte Bundesarchiv für seine Arbeit zur Verfügung gestellt.«
Zurück trat der Sprecher, auseinander traten die Oberen und verloren sich wieder langsam teils im tiefen Räume, teils durch die Ausgänge, ganz still wurde es in dem ungeheuren Räume. Ich blickte mich ängstlich um, da sah ich vor mir auf einem der Kanzleitische Papierblätter liegen, die erschie — nen mir bekannt, und indem ich sie anfaßte, erkannte ich in ihnen meine Arbeit, mein Sorgenkind, mein begonnenes Manuskript. »Geschichte der Morgenlandfahrt, aufgezeichnet durch H. H.«
stand auf dem blauen Umschlag. Ich stürzte mich darauf, durchlas seine spärlichen, engbeschriebenen, vielfach durchstrichenen und korrigierten Textseiten, voll Hast, voll Arbeitsgier, voll vom Gefühl, jetzt endlich, mit höherer Billigung, ja Unterstützung, meine Aufgabe beenden zu dürfen.
Wenn ich bedachte, daß kein Gelübde mir mehr die Zunge band, wenn ich bedachte, daß ich über das Archiv verfügen konnte, über diese unergründliche Schatzkammer, so schien die Aufgabe mir größer und ehrenvoller als je.
Je mehr ich jedoch in den Seiten meiner Handschrift las, desto weniger gefiel mir das Manuskript, ja es war mir auch in den verzweifeltsten Stunden bisher noch nie so unnütz und verkehrt erschienen wie jetzt. Alles schien so konfus und kopflos, die klarsten Zusammenhänge entstellt, das Selbstverständlichste vergessen, lauter Nebensächliches und Belangloses in den Vordergrund gedrängt!
Da mußte ganz von vorn begonnen werden.
Wie ich das Manuskript so durchlas, mußte ich Satz um Satz durchstreichen, und indem ich ihn durchstrich, verkrümelte er sich auf dem Papier, und die klaren spitzen Buchstaben fielen auseinander zu spielerischen Formfragmenten, zu Strichen und Punkten, zu Kreisen, Blümchen, Sternchen, und die Seiten bedeckten sich wie Tapeten mit anmutig sinnlosem Ornamentgewirke.
Bald war nichts mehr da von meinem Text, dagegen blieb viel unbeschriebenes Papier für meine Arbeit übrig. Ich nahm mich zusammen. Ich machte mir klar: Natürlich war mir früher eine unbefangene und klare Darstellung nicht möglich gewesen, weil doch alles von Geheimnissen handelte, deren Mitteilung mir durch den Bundeseid verboten war. Wohl hatte ich den Ausweg gesucht, von einer objektiven Geschichtsdarstellung abzusehen und ohne Rücksicht auf die höheren Zusammenhänge, Ziele und Absichten mich einfach auf das von mir persönlich Erlebte zu beschränken.
Aber man hatte ja gesehen, wohin das führte.
Jetzt hingegen gab es keine Schweigepflicht und keine Beschränkungen mehr, ich war ganz offiziell ermächtigt, und dazu stand das unerschöpfliche Archiv mir offen.
Es war klar: Auch wenn meine bisherige Arbeit sich nicht in Ornamentik aufgelöst hätte, mußte ich das Ganze völlig neu beginnen, neu begründen, neu aufbauen. Ich beschloß, es mit einer kurzgefaßten Geschichte des Bundes, seiner Gründung und Verfassung zu eröffnen. Die kilometerlangen, endlosen, riesigen Zettelkataloge auf allen Tischen, die sich hinten weit in Ferne und Dämmerung verloren, mußten mir ja auf jede Frage Antwort geben.
Vorerst beschloß ich, das Archiv durch einige Stichproben zu befragen, ich mußte ja mit diesem ungeheuren Apparat arbeiten lernen. Natürlich suchte ich vor allem ändern nach dem Bundesbrief.