»DerSelbstankläger«, sprach esvom hohen Throne, »hat Gelegenheit gehabt, sich von einigen seiner Irrtümer zu befreien. Vieles spricht gegen ihn. Es mag begreiflich und sehr entschuldbar sein, daß er dem Bunde untreu wurde, daß er seine eigene Schuld und Torheit dem Bunde vorwarf, daß er an dessen Fortbestand zweifelte, daß er den wunderlichen Ehrgeiz besaß, zum Geschichtschreiber des Bundes werden zu wollen. Dies alles wiegt ja nicht schwer. Es sind, der Selbstankläger gestatte mir das Wort, lediglich Novizendummheiten. Sie erledigen sich dadurch, daß wir über sie lächeln.«
Hoch atmete ich auf, und die ganze erhabene Versammlung überflog ein leichtes Lächeln. Daß die schwersten meiner Sünden, sogar mein Wahn, daß der Bund nicht mehr bestehe und daß ich der einzige Treugebliebene sei,vom Obersten der Obern nur als »Dummheiten«, als Kindereien betrachtet wurden, war eine ungeheure Erleichterung und wies mich zugleich aufs strengste in meine Schranken zurück.
»Aber«, fuhr Leo fort, und jetzt wurde seine sanfte Stimme betrübt und ernst -, »aber es sind dem Angeklagten noch andere, viel ernstere Sünden nachgewiesen, und das Schlimmste daran ist, daß er für diese Sünden nicht als Selbstankläger dasteht, sondern von diesen Sünden gar nichts zu wissen scheint. Er bedauert tief, dem Bunde in Gedanken Unrecht getan zu haben, er kann sich nicht verzeihen, daß er in dem Diener Leo nicht den obersten Stuhlherrn Leo zu sehen vermocht hat, und ist nahe daran, den Umfang seiner Untreue am Bunde einzusehen. Aber während er diese Gedankensünden und Torheiten allzu ernst nahm und in diesem Augenblick erst erleichtert einsieht, daß sie durch Lächeln abgetan werden können, vergißt er hartnäckig seine tatsächlichen Verschuldungen, deren Zahl Legion und deren jede einzelne schwer genug ist, um hohe Strafe zu verdienen.«
Angstvoll flatterte das Herz in meiner Brust. Leo wandte sich mir zu: »Angeklagter H., Sie werden später Einblick in Ihre Verfehlungen bekommen, und es wird Ihnen auch der Weg gezeigt werden, sie künftig zu vermeiden. Nur um Ihnen zu zeigen, wie wenig Verständnis Sie noch für Ihre Lage haben,frage ich Sie nun: Erinnern Sie sich an Ihren Gang durch die Stadt in Begleitung des Dieners Leo, der Sie als Bote vor den Hohen Stuhl zu bringen hatte? — Ja, Sie erinnern sich. Und erinnern Sie sich, wie wir am Rathause, an der Paulskirche, am Dom vorüberkamen, und wie der Diener Leo in den Dom eintrat, um ein wenig zu knien und Andacht zu üben, und wie Sie selbst nicht bloß darauf verzichteten, mit einzutreten und Andacht zu verrichten, entgegen dem vierten Satz Ihres Bundesgelübdes, sondern wie Sie ungeduldig und gelangweilt draußen stehenblieben, um die lästige Zeremonie abzuwarten, die Ihnen so entbehrlich schien, die für Sie nichts war als eine widerwärtige Prüfung Ihrer egoistischen Ungeduld? — Ja, Sie erinnern sich. Sie haben, allein schon durch Ihr Verhalten vor dem Tor des Domes, alle grundlegenden Forderungen und Sitten des Bundes mit Füßen getreten, Sie haben die Religion mißachtet, haben einen Bundesbruder verachtet, haben der Gelegenheit und Aufforderung zu Andacht und Versenkung sich unwillig entzogen. Die Sünde wäre unverzeihlich, sprächen nicht besondre mildernde Umstände für Sie.«
Jetzt hatte er mich getroffen. Jetzt kam alles zur Sprache, nicht mehr die Nebensachen, nicht mehr die bloßen Dummheiten. Er hatte mehr als recht.
Er traf mich ins Herz.
»Wir wollen«, fuhr der Oberste der Obern fort, »die Verfehlungen des Angeklagten nicht alle aufzählen, er soll ja nicht nach dem Buchstaben gerichtet werden, und wir wissen wohl, daß es nur unsrer Mahnung bedarf, um das Gewissen des Angeklagten zu wecken und ihn zum reuigen Selbstankläger zu machen.
Immerhin, Selbstankläger H., muß ich Ihnen raten, auch noch einige andre Ihrer Taten vor das Gericht Ihres Gewissens zu ziehen. Muß ich Sie an den Abend erinnern, an dem Sie den Diener Leo aufsuchten und von ihm als Bundesbruder wiedererkannt zu werden wünschten, obwohl dies unmöglich war, da Sie selbst sich als Bundesbruder so unkenntlich gemacht hatten? Muß ich Sie an Dinge erinnern, die Sie selbst dem Diener Leo erzählt haben? An den Verkauf Ihrer Violine? An Ihr verzweifeltes, dummes, engstirniges, selbstmörderisches Leben, das Sie seit Jahren geführt haben?
Und noch eines, Bundesbruder H., darf ich nicht verschweigen. Es ist ja recht wohl möglich, daß an jenem Abend der Diener Leo Ihnen in seinen Gedanken Unrecht getan hat. Nehmen wir an, es sei so. Der Diener Leo war vielleicht etwas zu streng, etwas zu vernünftiger hatte vielleicht nicht genug Nachsicht und Humor für Sie und Ihren Zustand. Aber es gibt höhere Instanzen und untrüglichere Richter als den Diener Leo. Wie lautete das Urteil der Kreatur über Sie, Angeklagter?
Erinnern Sie sich des Hundes Necker? Erinnern Sie sich der Ablehnung und Verurteilung, die er über Sie verhängte? Er ist unbestechlich, er ist nicht Partei, er ist nicht Bundesbruder.«
Er machte eine Pause. Ja, der Wolfshund Necker!