Geräusch weckte mich aus der Versunkenheit, unheimlich blickte von allen Seiten die unendliche Raumtiefe des Archivs mich an. Ein neuer Gedanke, ein neuer Schmerz zuckte durch mich hin wie ein Blitzstrahl: Die Geschichte dieses Bundes hatte ich Einfältiger schreiben wollen, ich, der ich von diesen Millionen Schriften, Büchern, Bildern, Zeichen des Archivs kein Tausendstel zu entziffern oder gar zu begreifen vermochte! Vernichtet, namenlos töricht, namenlos lächerlich, mich selber nicht begreifend, zu einem Stäubchen eingedorrt, sah ich mich inmitten dieser Dinge stehen, mit welchen man mir ein wenig zu spielen erlaubt hatte, um mich fühlen zu lassen, was der Bund sei, und was ich selbst.
Herein kamen durch die vielen Türen die Oberen in unendlicher Zahl; manche konnte ich, noch durch Tränen hindurch, erkennen. Ich erkannte Jup den Magier, erkannte den Archivar Lindhorst, den als Pablo verkleideten Mozart. In den vielen Sesselreihen baute sich die erlauchte Versammlung auf, in Sesselreihen, welche nach hinten anstiegen und immer schmäler wurden; über dem hohen Thron, der die Spitze bildete, sah ich einen goldenen Baldachin funkeln.
Der Sprecher trat vor und verkündete: »DerBund ist bereit, durch seine Oberen Recht zu sprechen über den Selbstankläger H., der sich berufen fühlte, Bundesgeheimnisse zu verschweigen, und der nun eingesehen hat, wie wunderlich und blasphemisch seine Absicht war, die Geschichte einer Fahrt zu schreiben, der er nicht gewachsen war, und die Geschichte eines Bundes, an dessen Dasein er nicht mehr glaubte, und dem er untreu geworden war.«
Er wandte sich an mich und rief mit seiner klaren Heroldstimme: »Bist du, Selbstankläger H., damit einverstanden, den Gerichtshof anzuerkennen und dich seinem Urteil zu unterwerfen?«
»Ja«, gab ich zur Antwort.
»Bist du, Selbstankläger H.«, fuhr er fort, »damit einverstanden, daß der Gerichtshof der Oberen ohne den Vorsitz des Obersten der Obern über dich urteile, oder verlangst du, daß der Oberste der Obern selbst über dich urteile?«
»Ich bin einverstanden«, sagte ich, »mit dem Urteil der Oberen, ob es mit oder ohne den Vorsitz des Obersten der Obern erfolge.«
Der Sprecher wollte erwidern. Da klang aus der hintersten Tiefe des Saales eine sanfte Stimme: ' »Der Oberste ist bereit, das Urteil selbst zu sprechen.«
Wunderliche Schauer weckte der Klang dieser sanften Stimme in mir. Tief aus der Ferne des Raumes her, aus den Wüstenhorizonten des Archivs, kam ein Mann geschritten, le ise und friedlich war sein Gang, sein Kleid funkelte von Gold, und er kam unterm Schweigen der Versammlung näher, und ich erkannte seinen Gang, erkannte seine Bewegungen, erkannte zuletzt auch sein Gesicht. Es war Leo. In einem feierlichen und prachtvollen Ornat wie ein Papst stieg er durch die Reihen der Oberen zum Hohen Stuhl hinan. Wie eine prächtige fremde Blume trug er den Glanz seines Schmuckes die Stufen empor, grüßend erhob sich jede Reihe von Oberen, an der er vorüberkam.
Sorgfältig, demütig, dienend trug er seine strahlende Würde, demütig, wie ein frommer Papst oder Patriarch Insignien trägt.
Ich war tief gebannt und durchdrungen von der Erwartung meines Urteils, das ich demütig hinzunehmen bereit war, ob es nun Strafe oder Begnadigung bringe; ich war nicht minder tief davon gerührt und ergriffen, daß es Leo war, der einstige Gepäckträger und Diener, der nun an der Spitze des ganzen Bundes stand und bereit war, über mich zu urteilen. Aber noch viel mehr ergriffen, betroffen, bestürzt und beglückt war ich von der großen Entdeckung dieses Tages: daß der Bund vollkommen unerschüttert und mächtig wie je bestehe, daß nicht Leo und nicht der Bund es war, die mich verlassen und enttäuscht hatten, sondern daß nur ich so schwach und so töricht gewesen war, meine eigenen Erlebnisse mißdeutend, am Bund zu zweifeln, die Fahrt ins Morgenland als mißglückt zu betrachten und mich für den Überlebenden und Chronisten einer erledigten und im Sande verronnenen Geschichte zu halten, während ich nichts war als ein Davongelaufener, untreu Gewordener, ein Deserteur. Entsetzen und Beglückung lagen in dieser Erkenntnis. Klein stand ich und demütig zu Füßen des Hohen Stuhles, von dem ich einst als Bruder in den Bund aufgenommen worden war, von dem ich einst die Novizenweihe und den Bundesring erhalten hatte und gleich dem Diener Leo auf die Fahrt geschickt worden war. Und mitten in dem allem fiel eine neue Sünde, ein neues unerklärliches Versäumnis, eine neue Schande mir aufs Herz: ich besaß den Bundesring nicht mehr, ich hatte ihn verloren, und ich wußte nicht einmal, wann und wo, hatte ihn bis heute nicht einmal vermißt!
Mittlerweile begann der Oberste der Obern, begann der golden geschmückte Leo mit schöner, sanfter Stimme zu sprechen, sanft und beglückend flössen seine Worte zu mir herab, sanft und beglückend wie Sonnenschein.