Pendergast nahm das alles genau in Augenschein, samt den Pfosten im Wasser und dem rostigen Maschendraht, einst die Zuchtkäfige. Es handelte sich hier eindeutig um eine aufgelassene Alligatorenfarm. Die Ruinen boten zahlreiche Verstecke und Punkte für Hinterhalte, ein idealer Ort für einen Mann mit einer Handfeuerwaffe, der sich einem Gegner mit einem Gewehr gegenübersieht. Pendergast blieb in einem Schilfdickicht stehen und überdachte die Lage. Wenn er die Deckung jener Schuppen erreichen könnte, könnte er die Regeln des Kampfes ändern. Alles hing davon ab, ob der Schütze seine Spur tatsächlich verloren hatte oder auf Zeit spielte.
Pendergast stürmte aus der Deckung – die Schmerzen im verletzten Bein ignorierend – und spurtete über das offene Gelände auf den nächstgelegenen Schuppen zu. Sofort kamen Mündungsblitze aus einem der verfallenen Gebäude vor ihm. Pendergast warf sich auf den Boden, während die Kugeln sich auf allen Seiten in die Erde bohrten. Hektisch kriechend zog er sich in einen schlammigen Graben zurück, dann arbeitete er sich erneut bis zur Uferböschung vor und ließ sich ins Wasser gleiten. Dabei hielt er gerade so lange inne, dass er rasch noch einen Schuss auf die dunkle Öffnung des Schuppens abgeben konnte, aus dem die Schüsse gekommen waren.
Der Schütze hatte also seine Fährte doch nicht verloren. Mehr noch, er hatte vorausgesehen, was Pendergast tun würde, und bewegte sich aus seiner Scharfschützenstellung zu einem Punkt für einen Hinterhalt in der alten Alligatorenfarm.
Pendergast nutzte das Ufer als Schutz. Er bewegte sich durch das Wasser und kam um eine Biegung, wo eine umgestürzte Sumpfzypresse lag. Kurz oberhalb und dahinter befand sich der Schuppen, aus dem der Schütze gefeuert hatte. Mit äußerster Vorsicht hob Pendergast den Kopf und spähte zwischen Farnpflanzen hindurch. Zwischen den Schuppen nahm er eine Bewegung wahr: das Huschen einer laufenden Person. Er hob die Waffe, aber die Entfernung war zu groß, außerdem würde der Schuss nur seine Position verraten. Er sah, dass der Mann zu einem zentralen Punkt zwischen den zerstörten Schuppen gelaufen war. Offenkundig wollte er unbedingt verhindern, dass Pendergast einen Teil jenes Areals erreichte. Er war offensichtlich jemand, der sich auf der Insel auskannte. Und jeder taktische Schritt, den der Mann bisher unternommen hatte, ließ auf eine Tätigkeit beim Militär oder bei den Strafbehörden schließen. Das Gleiche wie bei John Vance.
Von seinem Aussichtsposten aus konnte Pendergast keinen Weg nach vorn erkennen. Die einzige Option war, zurück ins Wasser zu tauchen und die umgestürzte Sumpfzypresse als Deckung zu nutzen, weiter einen großen Bogen zu schlagen und einem neuen Denkansatz zu folgen. Inzwischen hatte er erkannt, mit was für einem Gegner er es zu tun hatte, deshalb standen seine Chancen nicht gut. Der Schütze ahnte, dass Pendergast ihn angreifen würde, wusste, dass er die Zeit auf seiner Seite hatte. Solange die Möglichkeit bestand, egal, wie gering, dass Coldmoon noch am Leben war, musste Pendergast sich mit dem Schützen befassen und zu dem Erdloch zurückkehren. Der Mann mit dem Gewehr wusste das genauso gut wie er.
Er schlich an dem umgestürzten Baum entlang und achtete darauf, auf der spiegelglatten Wasserfläche keine Wellen zu verursachen. Am Baumstamm angekommen, spähte er drum herum.
Es gab nur eine Möglichkeit, festzustellen, wo sich der Schütze derzeit aufhielt: ihn zu ermutigen, einen Schuss abzugeben. Was bedeutete, dass er sich selbst zeigen musste. Inzwischen war sich Pendergast ziemlich sicher – jedenfalls dem Klang des Gewehrs nach zu schließen –, dass der Mann eine Winchester 94 mit dem Kaliber .30-30 mit Zielfernrohr einsetzte. Das war ein ordentliches Jagdgewehr, aber auf keinen Fall eine Waffe für den taktischen Nahkampf.
Während Pendergast sich nach wie vor durch das Wasser vorarbeitete und dabei nach Alligatoren und Wassermokassinottern Ausschau hielt, hielt er auf eine besonders dichte Gruppe von Bäumen zu. Diese als Deckung nutzend, schlich er sich näher an das Durcheinander von Gebäuden heran, wobei er auf dem Grund entlangkroch und den Kopf möglichst weit unter Wasser hielt. Das wurde ein bisschen durch eine Reihe von Unterwasser-Zaunpfosten erleichtert, die mit dem Maschendraht verbunden waren.
Er arbeitete sich von dreihundert auf zweihundert Meter näher heran, bevor der nächste Schuss erklang, der diesmal einen Splitter aus einem Baumstamm neben Pendergasts Kopf riss. Das war eine nützliche Information. Jetzt wusste er, dass der Mann seine Stellung gewechselt hatte, in den über dem Wasser gebauten Hauptschuppen, und aus der Dunkelheit einer offenen Tür auf ihn schoss.