Es war, als hätte Mutter Erde einen verschlungen. Auf einmal spürte er, wie der Boden unter ihm wegbrach, der Farnbewuchs einstürzte und ein feuchter Windhauch ihm entgegenwehte. Coldmoon fiel, und sein Sturz kam erst zum Stehen, als ihn plötzlich irgendetwas packte, stark wie ein Stahlkabel, während sich der Sturm aus lockerem Sand langsam legte. Hustend und keuchend spuckte er den Sand aus und erkannte, dass Pendergast seinen Sturz gestoppt hatte: Er hielt ihn am Arm fest, an einem steilen Hang aus Sand und Erde, der hinab in einen Tümpel aus strudelndem Schlammwasser führte.
Mit der anderen Hand hatte Pendergast eine dicke Wurzel gepackt. »Stemmen Sie die Füße in die Wand. Versuchen Sie, irgendwo Halt zu finden.«
Mit der freien Hand scharrte Coldmoon gegen die nachgebende Wand aus loser Erde und packte eine andere Wurzel. Dabei fand er mit den Füßen irgendetwas, auf dem er stehen konnte. Während das Gebröckel nachließ, schien sich die einstürzende Grube zu stabilisieren, auch wenn die Ränder nach wie vor bröckelten und der Farnbewuchs auf sie herabfiel, während sie sich an dem steilen Hang festklammerten.
»Ein Erdbeben?«, keuchte Coldmoon.
»Senkloch«, erwiderte Pendergast.
Mit einem erstaunlichen Kraftakt gelang es ihm, nach oben zu greifen und eine höhere Wurzel zu packen. Die sandige Erde fiel weiterhin vom Rand des Senklochs ab.
Coldmoon folgte Pendergasts Beispiel und fand ebenfalls eine Wurzel. Er bohrte sich mit den Füßen in den Hang und vergewisserte sich, dass er guten Halt hatte.
»Ich kann raufklettern«, sagte er, und Pendergast ließ ihn los.
Der Hang war steil, aber nicht senkrecht, mit vielen frei liegenden Wurzeln, und Coldmoon nutzte sie, um mit den Händen und Füßen Halt zu finden. Dabei fiel ihm die lockere Erde auf den Kopf und geriet ihm in Augen und Mund, sodass er gelegentlich einen Schritt zurück machen musste. Das Senkloch mochte sich stabilisiert haben, aber es kam ihm trotzdem vor, als würde man versuchen, einen ständig nachgebenden Sandhügel hochzuklettern: ein, zwei Meter hinauf, dann fast genauso viele wieder hinunter, während die sandigen Flanken bröckelten, bröselten, dann einbrachen. Dennoch, es dauerte nur ein paar Minuten, dann hatte Pendergast – Coldmoon folgte dichtauf – den Rand des Kraters erreicht, keuchend und Sand und lose Erde ausspuckend. Als er mit dem Kopf und den Schultern über den Rand blickte, sah er, dass die zertrampelten Farnpflanzen, die überall auf dem Pfad wuchsen, jetzt über das andere Ende des Senklochs baumelten, und in der Ferne dahinter die verfallene Lodge. Der ältere Mann auf der Veranda bemühte sich immer noch aufzustehen und rief erneut: »Hilfe!«
Plötzlich ertönte ein Knall. Gleichzeitig spürte Coldmoon einen Schlag, als hätte man ihm mit enormer Wucht auf den Rücken geschlagen. Zu seiner riesengroßen Überraschung wurde ihm klar, dass man ihn angeschossen hatte. Er verspürte zwar keine Schmerzen, aber er verlor plötzlich alle Kraft. Seine Hände lösten ihren Griff, und er spürte, dass er nach hinten fiel. Sekunden später landete er in dem dunklen, stehenden Wasser, das sich sofort über ihm schloss, und dann wurde alles schwarz.
45
Pendergast streckte den Arm aus, um Coldmoon erneut zu packen, aber der, in den Rücken geschossen, war schon außer Reichweite. Sich an einer Wurzel in der Nähe des oberen Bereichs des Kraters festhaltend, sah er, dass Coldmoon unten auf die Wasseroberfläche traf und sofort in dem strudelnden, trüben Wasser verschwand.
Ein zweiter Schuss fiel. Pendergast spürte, wie neben seinem Kopf lose Erde aufspritzte. Mit aller Kraft wuchtete er sich hoch und hinaus und rollte sich in die Deckung, die die Farnpflanzen boten. Währenddessen erklang ein dritter Schuss, die Kugel zerfetzte das Grün über seinem Kopf, während er sich mit einem Hechtsprung hinter eine Steineiche rettete. Es war ganz klar, dass die Schüsse von woanders, von innerhalb der Lodge kamen, höchstwahrscheinlich aus dem ersten Stock. Und während er noch die Fassade absuchte und versuchte, den Schützen ausfindig zu machen, ertönte ein weiterer Schuss – und der Kopf des Mannes, der auf der Veranda herumkroch, explodierte in einer Fontäne aus Rot und Grau.
Pendergast zog die Les Baer – dabei merkte er, dass er die Reserve-Glock beim Sturz in das Senkloch verloren hatte – und wartete hinter dem Baum. Er zählte bis acht, dann spähte er kurz dahinter hervor, bevor er sich wieder zurückzog. Jetzt war alles still. Sehen konnte er den Schützen nicht. Coldmoon lag immer noch unten im Krater, angeschossen. Nachdem er nochmals kurz hinter dem Baum hervorgeschaut hatte, gab Pendergast zwei Schüsse auf das Haus ab, dann schlich er durch den Farnbewuchs, der ihm Deckung bot, um einen Blick in das Senkloch zu werfen. Er sah da nichts als Streifen von Sand und loser Erde, die nach unten glitten, und die Ränder des Kraters bröckelten weiterhin ab. Kein Laut von Coldmoon.