Inzwischen war Iris am Grab angekommen und blieb einen Moment stehen, um über den Friedhof hinauszuschauen und die Aussicht zu bewundern. Trotz des Gedränges der vielen Leute auf der Straße und des starken Autoverkehrs bot sich ihr ein friedliches Bild: der Kane Concourse, der sich über die Harbor Islands in Richtung Festland erstreckte, die weißen Dreiecke der Segelboote, die bis hinauf zur Biscayne Bay kreuzten. Und alles war in freundliche, tropische Pastellfarben getaucht. Der Friedhof war eine Oase der Ruhe, vor allem morgens, wenn Iris sogar im März – dem Höhepunkt der Urlaubssaison – ein wenig Zeit am Grab ihres verstorbenen Ehemanns zubrachte, um zu sinnieren.
Die kleine Vase mit Plastikblumen, die sie neben den Grabstein gestellt hatte, stand irgendwie schief – sicherlich wegen des Tropensturms, der vorgestern über Florida hinweggefegt war. Sie justierte die Vase, zog ein Taschentuch aus der Handtasche, wischte die Blumen ab und begann, sie zu säubern. Plötzlich spürte sie, dass Twinkle wieder an der Leine zog, und das heftiger als zuvor.
»Twinkle!«, schalt sie. »Nein!« Francis hatte den Namen – kurz für Twinkle Toes – gehasst und den Hund immer Tyler genannt, nach der Straße, in der er aufgewachsen war. Aber Iris fand Twinkle schöner, und wenn Francis nun auch von ihr gegangen war, glaubte sie doch nicht, dass er etwas gegen den Namen einzuwenden hätte.
Sie drückte die Vase in den Boden, damit sie fester stand, presste das Gras ringsum an und lehnte sich ein wenig nach hinten, um ihr Werk zu bewundern. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr – vielleicht der Friedhofsgärtner oder eine andere Trauernde, die einem Toten die Ehre erwies. Es war jetzt kurz vor acht, und der Friedhof Bayside war schließlich der einzige auf der ganzen Insel. Da durfte man nicht erwarten, ihn ganz für sich allein zu haben. Sie würde ein Gebet sprechen, dasjenige, das sie und Francis vor dem Zubettgehen immer gemeinsam aufgesagt hatten, und dann wieder zurück zum Grande Palms fahren. Um zehn fand dort eine Eigentümerversammlung statt, und sie hatte vor, ein paar überaus deutliche Worte zu sprechen, was den Zustand der Bepflanzung in der Nähe des Eingangsbereichs betraf.
Twinkle zog immer noch stark an der Leine, und jetzt kläffte er auch noch. Sie schalt ihn noch einmal. Ein solches Betragen sah ihm gar nicht ähnlich – normalerweise benahm sich der Pekinese relativ brav. Außer als diese furchtbare Russisch Blaue in 7B ihn einmal gejagt hatte. Während Iris sich aufrichtete und sich gedanklich auf ihr Gebet vorbereitete, nutzte Twinkle die Gelegenheit und rannte los, wodurch ihr die Leine aus der Hand glitt. Wie ein Irrer flitzte er über den feuchten Rasen, die Leine hinter sich herziehend und bellend.
»Twinkle!«, rief sie in barschem Tonfall. »Komm sofort zurück!«
Der Hund blieb an einem Grabstein in der nächsten Reihe stehen. Irgendetwas dort fand er wahnsinnig interessant. Selbst aus dieser Entfernung war zu erkennen, dass der Grabstein älter als der von Francis war, aber nicht viel. Vor dem Grabstein lagen ein paar frische Blumen und etwas, das ein von Hand geschriebener Brief zu sein schien. Aber nicht das zog Iris’ Aufmerksamkeit auf sich; Blumen und Briefe ebenso wie eine Vielzahl von Grabbeigaben liebender Angehöriger sah man auf der Hälfte der Gräber auf dem Bayside. Nein, auf Twinkle selbst wurde sie aufmerksam. Offenbar hatte er etwas gefunden, das unten am Grabstein lag, und veranstaltete deswegen ein Riesenspektakel. Weil Twinkle den Gegenstand verdeckte, konnte Iris nicht erkennen, um was es sich dabei handelte, jedenfalls hatte er sich darübergebeugt und schnüffelte und leckte daran.
Das Gebet würde warten müssen, bis sie Twinkle wieder an der Leine hatte.
Iris steckte das Taschentuch zurück in die Handtasche und näherte sich Twinkle mit langen Schritten. Doch während sie schimpfend näher kam, packte er den gerade eben gefundenen Schatz und lief davon. Entsetzt und zugleich verlegen sah Francis ihn in einer Gruppe Palmettopalmen aus dem Blickfeld verschwinden.
Verärgert seufzte sie auf. Francis hätte das gar nicht gern gesehen; er hatte stets darauf bestanden, dass Hunde artig und folgsam zu sein hätten. »Dieser dumme kleine Köter«, hätte er gesagt. Na ja, heute Abend würde Twinkle erleben, was Zucht und Ordnung bedeuteten: keinen leckeren Keks im Futter.