Falls man der Akte trauen konnte, war dieser Agent so einzelgängerisch, wie man nur sein konnte. Aber Pickett hatte die Personalakte gründlich durchgearbeitet – zumindest ihre nicht klassifizierten Bereiche – und einen Handlungsplan entworfen, mit dem er das Problem angehen wollte.
Er sah zur Wanduhr. Punkt dreizehn Uhr. Wie aufs Stichwort ging die Tür auf, und ein Mann betrat die Sauna. Pickett sah mit geübter Lässigkeit hin und musste sich zusammenreißen, nicht noch einmal hinzuschauen. Der Mann war groß gewachsen und schlank und so blond, dass die sorgfältig gestutzten Haare fast weiß wirkten. Die Augen waren gletscherfarben und so kalt und undurchsichtig wie das Eis, dem sie glichen. Aber anstatt dass er nackt war und ein Saunatuch um die Taille hatte, trug der Mann einen schwarzen Anzug, tadellos geschneidert und zugeknöpft, dazu ein gestärktes weißes Hemd mit perfekt gebundener Krawatte. Die Schuhe waren blank poliert und von der teuren, maßgefertigten Sorte. Pickett war fassungslos. Von allen Gedanken, die sich in seinen Kopf geschlichen hatten, stach einer heraus:
Der andere Mann in der Sauna, der unweit der Tür saß, sah hoch, runzelte kurz überrascht die Stirn und senkte den Blick wieder.
Schnell hatte Pickett seine Fassung wiedergewonnen. Der Agent stand, wie er sehr wohl wusste, in dem Ruf, ein ungeheurer Exzentriker zu sein. Darum hatte er sich auch nicht nur dazu entschlossen, seine Dienstanweisungen zu verschärfen, sondern auch den Ort zu ändern, um das zu besprechen. Seiner Erfahrung nach halfen atypische Situationen – wie zum Beispiel, sich nackt in einer Sauna zu treffen –, schwierige Untergebene aus dem Gleichgewicht zu bringen, wodurch er dann die Oberhand gewann.
Mal abwarten, wie sich die Dinge entwickelten.
Bevor er irgendetwas sagte, hob er die hölzerne Schöpfkelle aus dem Aufgusseimer und füllte sie, dann goss er das Wasser auf die Saunasteine. Eine zufriedenstellend dicke Dampfwolke waberte durch den Raum.
»Agent Pendergast«, sagte er mit tonloser Stimme.
Der Mann in Schwarz nickte.
»Es gibt mehrere Reihen mit Spinden hinter den Duschräumen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Kleidung abzulegen?«
»Das wird nicht nötig sein. Die Hitze bekommt mir sehr gut.«
Pickett musterte den Mann von oben bis unten. »Dann nehmen Sie bitte Platz.«
Agent Pendergast nahm sich ein Saunatuch von einem Stapel in der Nähe der Tür, kam herüber und wischte die Bank neben Pickett trocken; dann faltete er es penibel und setzte sich.
Pickett achtete darauf, sich nicht anmerken zu lassen, wie verblüfft er war. »Zunächst einmal, darf ich Ihnen mein Beileid zum Tod von Howard Longstreet aussprechen? Er war ein herausragender Nachrichtendienstchef und, wie ich höre, so eine Art Mentor für Sie.«
»Er war der Beste, den ich gekannt habe, bis auf einen.«
Das war zwar nicht die Antwort, mit der Pickett gerechnet hatte, aber er nickte trotzdem und hielt an seiner Agenda fest. »Ich wollte schon seit Längerem mit Ihnen sprechen. Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn ich ganz offen zu Ihnen bin.«
»Im Gegenteil. Anders als hinterhältige Fragen führen unverblümte Gespräche rasch zum Ziel.«
Pickett suchte in Pendergasts Zügen nach irgendwelchen Anzeichen für Insubordination, aber die Miene des Agenten blieb völlig ausdruckslos. Er fuhr fort: »Sie werden gewiss nicht überrascht sein zu erfahren, dass ich in meinen wenigen Monaten als Leiter der New Yorker Außenstelle viel über Sie gehört habe – offiziell wie auch inoffiziell. Um es freiheraus zu sagen: Sie gelten als einsamer Wolf, wenngleich als einer, der einen außergewöhnlich hohen Prozentsatz an erfolgreichen Ermittlungen vorzuweisen hat.«
Pendergast akzeptierte das Kompliment, indem er kurz nickte, so wie man vielleicht seiner Partnerin zunickt, bevor man sie zum Tanz auffordert. Wie seine Sprechweise wirkten auch seine Bewegungen bedächtig und katzenhaft, als wäre er auf der Pirsch nach Beute.
Jetzt zeigte Pickett ihm die Kehrseite seines Lobs. »Ihre Arbeit hat allerdings auch eine der höchsten Quoten an Tatverdächtigen vorzuweisen, die nicht vor Gericht gestellt werden, da sie – im FBI-Jargon ausgedrückt –
Erneut graziöses Nicken seitens Pendergasts.
»Direktor Longstreet war nicht nur Ihr Mentor, sondern auch Ihr Schutzengel im Bureau. So wie ich das verstehe, scheint er die Aufsichtsorgane von Ihnen ferngehalten zu haben. Er hat Ihre unorthodoxen Methoden verteidigt, Sie vor negativen Konsequenzen bewahrt. Aber jetzt, da er tot ist, steckt die Leitungsebene in einem Dilemma – was den Umgang mit Ihnen angeht, meine ich.«