»Na ja …« Waintree zögerte kurz. »Chief Pelletier hat mir aufgetragen, ihn bei Ihnen zu entschuldigen. Er hat momentan wahnsinnig viel zu tun.«
»Ach ja?«
»Ja, Sir. Schauen Sie, wir haben hier eine wahre Epidemie von Straftaten im Zusammenhang mit Opioiden und Drogen, die unsere Dienststelle förmlich überschwemmen. Das und der übliche Kram, mit dem wir jetzt immer zu tun haben, wenn der Winter sich hinzieht. Die Fallakten, die Sie bereits haben, enthalten alle sachdienlichen Hinweise, und ich bin der einzige Augenzeuge des Selbstmords, der noch im Dienst ist. Es hat einfach keinen Sinn, auf die Wache zu kommen.«
Bei dieser langatmigen Antwort wurde Pendergasts Miene undurchdringlich. Als Waintree zu Ende gesprochen hatte, ließ Pendergast eine längere Stille entstehen. Gerade als er antworten wollte, sprang Coldmoon – der irgendeiner inneren Warnung folgend handelte, die er selber nicht ganz verstand – mit dem Satz an die Youngs ein: »Apropos, welche Zimmer haben Sie eigentlich für uns reserviert?«
Das Ehepaar tauschte Blicke. »Ach Gott«, sagte Carol Young. »Aber es stehen keine Zimmer zur Verfügung. Wir haben geschlossen.«
»Kein einziges? Ich dachte, die ganze Lodge sei leer.«
»Ja, das stimmt schon«, sagte der Ehemann. »Wie alle Hotels hier in der Gegend. Die Besucherzahlen gehen in den Keller, sobald die Laubgucker weg sind. Das ist die ideale Zeit zum Renovieren.«
»Hatten Sie nicht gesagt, dass dieser Teil des Hotels derzeit nicht renoviert wird?«
»Dieses
Coldmoon ließ die Antwort sacken. »Können Sie uns denn eine Unterkunft in der Stadt empfehlen?«
»Die haben alle geschlossen, fürchte ich. Die Skiläufer sind alle drüben in der Nähe von Big Squaw. Sie werden im Umkreis von einer Autostunde keine Unterkunft finden, die offen hat.«
»Und sie fanden keine Unterkunft«, murmelte Pendergast, als sie das Badezimmer verließen.
»Es gibt da noch das Lowly Mackerel«, sagte Sergeant Waintree.
»Genau!«, sagte Young. »Das hält doch das ganze Jahr über ein paar Zimmer offen, oder? Ich habe mich immer gewundert, warum.«
»Das Motel liegt kurz vor Millinocket«, sagte Waintree, drehte sich um und ging zur Tür, dann blieb er stehen. »Zum Abendessen können Sie sich auf dem Weg dahin etwas im SaveMart besorgen.«
»Restaurants haben auch keine geöffnet?«, fragte Coldmoon. Aber Waintree war bereits den beiden Inhabern auf den Flur gefolgt und nicht mehr zu sehen.
»Es wundert mich gar nicht, dass die hier ein Opioidproblem haben«, sagte Pendergast halblaut. Und dann rieb er sich die Hände und startete die penibelste Untersuchung, die Coldmoon je im Leben gesehen hatte. Mithilfe eines Vergrößerungsglases inspizierte Pendergast die Ränder des Teppichbodens vom einen Ende des Zimmers zum anderen; er nahm das Telefon wie auch das Radio auseinander und untersuchte deren Innenleben; er strich mit einem winzigen Kamm mit ultrafeinen Zinken über die Montagewinkel der Duschvorhangstange im Bad. Hin und wieder erschienen wie von Zauberhand kleine Plastikumschläge aus den unzähligen Taschen seines Parkas, dann wieder hob er mit einer Juwelierpinzette irgendeinen Gegenstand auf, tat ihn in den Umschlag, steckte diesen ein und fuhr fort.
Zunehmend verwundert schaute Coldmoon eine Zeit lang zu, bis er schließlich sagte: »Der Besitzer hat doch gesagt, dass das Zimmer renoviert wurde. Und Elise Baxter hat hier vor über elf Jahren Selbstmord begangen. Hunderte Gäste haben seitdem dieses Zimmer benutzt.«
Während Coldmoon das sagte, hatte Pendergast ein kleines Multiwerkzeug aus seinem Parka gezaubert und schraubte eine Lüftungsklappe der Heizung unten an der Wand ab. »Sie haben ganz recht«, sagte er. »Und dennoch –«, er leuchtete mit einer Taschenlampe in die Verrohrung, die er gerade eben freigelegt hatte, griff erneut nach der Pinzette und entfernte irgendetwas, das an einem kleinen metallenen Grat hing. »Elise Baxter hat sich in diesem Zimmer aufgehalten. Und sie hat sich hier das Leben genommen.«
»Was genau hoffen Sie denn zu finden? Haben Sie die Hoffnung, dass sie aus dem
»Das ist eine Möglichkeit.« Pendergast stand auf und staubte sich die Kleidung ab. »Agent Coldmoon, wie Ihnen sicherlich aufgefallen ist, ist die Akte, die wir erhalten haben, so gut wie wertlos. Ohne das Hotelregister, in dem steht, wer sonst noch am Tag des Suizids hier gewohnt hat, haben wir herzlich wenig, mit dem wir etwas anfangen können. Und deshalb bin ich sehr daran interessiert, alles in diesem Zimmer zu sammeln, was ich nur kann – wenn es denn hier überhaupt etwas zu sammeln gibt. Aber sicherlich würden Sie Ihre Zeit gern auf andere Art und Weise verbringen. Wollen wir uns in der Lobby treffen?«
Er zuckte mit den Achseln. »Kein Problem.« Und damit verließ er umstandslos das Zimmer.