»Wie viel Zeit ist zwischen dem Mord und der Entdeckung der Leiche vergangen?«, fragte Coldmoon.
»Nicht viel. Laut Aussage des Gerichtsmediziners war die junge Frau kurz vorher verblutet, als der Tellerwäscher sie gefunden hat, dort auf dem Boden liegend.« Sandoval deutete am Müllcontainer vorbei zu einem kleinen betonierten Bereich voller mit Kreide aufgemalter Umrisse, Beweismittelfähnchen und Blutlachen.
»Und was hat er gesehen?«
»Nichts. Wenigstens soweit wir das wissen. Er spricht nur Vietnamesisch, wir mussten deshalb, um seine Aussage aufzunehmen, eine Dolmetscherin hinzuziehen.« Sandoval sah nach hinten zu einem verstört wirkenden, mit einer schmutzigen weißen Schürze bekleideten Asiaten, der auf einem Mülleimer saß, flankiert von zwei Cops mit Digitalrekordern. »Er ist mit ein paar Müllsäcken rausgegangen und hat Rosen auf dem Boden liegend vorgefunden, reglos. Einen Moment lang war er derart geschockt, dass er nichts anderes bemerkt hat. Als er sich dann doch umgeschaut hat, lag die Gasse wie ausgestorben da.«
»Was ist mit dem Ocean Drive?«, fragte Pendergast. »Irgendwelche Augenzeugen?«
»Ja. Zu viele. Die Notfallsanitäter und der erste Streifenwagen haben rund acht Minuten benötigt, um hier einzutreffen, und als sie ankamen, waren bereits um die hundert Leute am Tatort, die alle behaupteten, den Mörder gesehen zu haben – darunter auch die beiden Freundinnen von Ms Rosen. Sie sind noch drüben im Eleven Hundred Washington und machen ihre Aussagen. Sie finden, dass hier ein irrer Trubel herrscht? Dann hätten Sie das mal gestern Abend erleben sollen.« Sandoval schüttelte den Kopf.
»Ergeben die Aussagen der Zeugen Sinn?«
»Bislang nicht. Ich meine, die Geschichten der Leute widersprechen einander, und angesichts des Zustands des Opfers …« Der Lieutenant verstummte.
»Bitte fahren Sie fort«, drängte Pendergast.
»Der Modus Operandi ähnelte der Vorgehensweise bei Montera. Die Kehle wurde ›fachmännisch‹ mit einem Messer durchtrennt, anschließend der Brustkorb mit einem Beil oder einem vergleichbar schweren Instrument mit Schneide aufgehackt. Effiziente Arbeit, schnell erledigt. Der oder die Täter haben sich das Herz der jungen Frau geschnappt, sind danach sofort geflüchtet und haben sie tot auf der Straße liegend zurückgelassen.« Sandoval schüttelte den Kopf. »Keiner von diesen Möchtegern-Zeugen, die gestern Abend hier gewesen sind, hat erwähnt, einen blutbespritzten Mann gesehen zu haben, der ein Hackbeil oder ein menschliches Herz in der Hand hielt.«
»Wurde die Frau unter Gewaltandrohung in die Gasse gezwungen?«
»Offenbar nicht. Sie scheint hier mit der Absicht reingegangen zu sein – nun ja, ihr ist übel gewesen. Neben der Leiche wurden große Mengen an Erbrochenem gefunden, es stimmt mit den teilweise verdauten Speisen im Magen überein.«
»Überwachungskameras?«, fragte Coldmoon.
»In der Gasse keine. Was Beweismaterial betrifft, haben die Schaulustigen, die hier hineingestürmt sind, um sich die Leiche nach ihrer Entdeckung anzusehen, alles zertrampelt. Wie Sie sich sicher vorstellen können, kompliziert das unsere Arbeit enorm.«
»Fotos?«
»Wir haben eine Menge davon gemacht. Und das wär’s erst einmal.«
»Vielen Dank, Lieutenant.«
Sandoval drehte sich um und verschwand in der lärmenden Menge, die sich vor dem Absperrband am Ocean Drive drängte. Coldmoon sah ihm hinterher. Dann schaute er Pendergast an. »Ähnlicher Modus Operandi, anderes Setting. Der Mörder hatte ein Ziel, und das hat er erreicht, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.«
»Ja«, sagte Pendergast halblaut. Er wandte den Blick ab und sah zu der verschmutzten, trostlos wirkenden Stelle hinter dem Müllcontainer, wo das Leben der jungen Frau geendet hatte. »Die Logistik ist beeindruckend.«
Coldmoon überlegte. »Sie meinen, dass der Täter imstande war, einen Menschen zu töten, aus seinem Opfer das Herz herauszuschneiden und dann zu türmen?«
»Genau. Und das in einer stark frequentierten Gegend – in gewisser Weise ist er ähnlich vorgegangen wie Jack the Ripper. Warum hat der Täter einen so belebten Ort ausgewählt, wo das Risiko, gesehen zu werden, derart hoch ist?« Pendergast drehte sich Lieutenant Sandoval zu, der mit einer Handvoll Fotos zurückkam. »Gibt es hier in der Nähe irgendwelche Friedhöfe?«
Sandoval händigte ihm die Fotos aus, überlegte kurz, schüttelte dann den Kopf. »Keine, außer Bayside, aber im eigentlichen Miami gibt es recht viele.«
»Dann würde ich empfehlen –« Pendergast wurde von einem Tumult hinter ihnen unterbrochen, von dringlichen, erhobenen Stimmen. Ein uniformierter Polizist drängelte sich durch die Menschenmenge, ging zu Sandoval und flüsterte ihm etwas zu.
»Es ist gerade eben ein Herz gefunden worden«, erklärte Lieutenant Sandoval ihnen, während sich der Uniformierte zurückzog. »Auf einem Grab in Miami-Stadt. Entschuldigen Sie mich.« Und damit drehte er sich um und entschwand im Pulk der uniformierten Polizisten.