Während das Taxi im Schritttempo weiter Richtung Norden fuhr, drehte sich Pendergast – er hatte während ihrer hektischen Bemühungen, von Maine nach Miami zu gelangen, statt den Inhalt der Polizeiakte von Katahdin mit ihm zu besprechen, größtenteils weiter geschwiegen – ihm zu. »Für den Fall, dass ich versäumt habe, es zu erwähnen: Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie meinen Vorschlag, den Ort, an dem Elise Baxter Selbstmord beging, aufzusuchen, unterstützt haben. Da wir kein festes Verhaltensmuster des Mörders hatten, konnten wir unmöglich im Voraus wissen, dass er erneut zuschlagen würde, auch nicht, dass sich der Mord so schnell beziehungsweise in derselben Stadt ereignen würde. Trotzdem bedaure ich es, dass unsere Abwesenheit uns daran gehindert hat, zur Tatzeit hier gewesen zu sein.«
Coldmoon zuckte mit den Achseln. »Ich folge meinem Partner«, sagte er nicht zum ersten Mal. Und fügte dann hinzu: »Ob das nun richtig ist … oder falsch.«
Darauf richtete Pendergast den Blick aus seinen eissplitterfarbenen Augen wieder auf die Menschenansammlung vor ihnen.
Das Taxi rückte noch einige Häuserblocks voran, bis es schließlich ganz zum Stehen kam, blockiert von Fußgängern, Polizeiwagen und anderen Taxis. Coldmoon und Pendergast öffneten ihre Türen. Pendergast gab dem Taxifahrer ein großzügiges Trinkgeld, dazu Anweisungen, ihr Gepäck zu seinem Hotel zu bringen, dann drängelten er und Coldmoon sich durch den Pulk zu jenem Bereich voller Menschen, der – wie Coldmoon vorausgesehen hatte – ein mit Tatortband abgesperrtes Areal umgab. Erstmals sah er Presseleute in dem Gedränge, sie riefen Fragen, ohne eine Antwort zu bekommen, hielten ihre Mikros ausgestreckt.
Während sie sich an den Schaulustigen vorbeidrängelten, zeigten sie ihre Ausweise und duckten sich unter das Absperrband. Coldmoon nahm seine Umgebung kurz in Augenschein. Sie standen am Eingang einer schmalen Gasse, die zwischen einem vietnamesischen Restaurant und einem ultratrendigen Art-déco-Hotel in Richtung Westen verlief. Innerhalb der Absperrung standen hier und dort Grüppchen von Polizeibeamten, in Uniform und Zivil, die entweder mit Zeugen sprachen oder einfach nur Wache hielten. Weiter unten in der Gasse standen einige Mitarbeiter der Kriminaltechnik um etwas herum, das offensichtlich die Stelle war, an der die Tote aufgefunden worden war. Das andere Ende der schmuddeligen Gasse versperrten Polizeiwagen und Notfallfahrzeuge, deren zuckendes Blaulicht auf die Fassaden der umgebenden Häuser fiel.
Die Gegend war Coldmoon zwar nicht vertraut, aber was er da vor sich hatte, erkannte er sofort: den Tatort eines Mordes, an dem bereits jede Menge Ermittlungsarbeit geleistet worden war. Als er sich umblickte, all die Polizeibeamten sah, deren Dienstgrad an den verschiedenen Reversabzeichen und Schulterstreifen abzulesen war, kamen ihm die Worte von Joseph, dem legendären Anführer der Nez Percé, in den Sinn.
Ein Mann löste sich aus dem Gedränge und kam zu ihnen herüber. Coldmoon sah ihn sich genauer an: klein, schlank, im mittleren Alter, Latino mit glänzendem schwarzem Haar, bekleidet mit einer hellen Hose und Schlips, aber ohne Sakko. Er schien Pendergast zu kennen – jedenfalls wunderte er sich nicht, einen Mann zu sehen, der einen komplett schwarzen Anzug mit dunkler Krawatte trug, als wäre er ein Secret-Service-Agent, der mit dem Fallschirm mitten hinein in dieses Sodom abgesprungen war.
Pendergast trat einen Schritt vor und streckte die Hand aus. »Lieutenant Sandoval. Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Partner vorzustellen. Special Agent Coldmoon.«
Sandoval schüttelte erst Pendergast, dann Coldmoon die Hand.
»Ich habe die Kurzdarstellung gelesen, die Sie für uns zum Mordfall Montera verfasst haben«, sagte Coldmoon durch den Lärm. »Steht alles Wichtige drin, danke.«
Sandoval nickte. »Sie sind eben erst angekommen«, sagte er zu Pendergast mit kaum wahrnehmbarem Akzent. Das war eine Aussage, keine Frage.
»Leider, ja.«
Sollte Sandoval überrascht sein, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
»Kommen Sie, ich bringe Sie auf den neuesten Stand.« Er machte eine Handbewegung, dass sie sich von dem Gedränge entfernen, tiefer in die Service-Gasse hineingehen sollten. »Tatzeit war gegen dreiundzwanzig Uhr dreißig. Das Opfer heißt Jennifer Rosen, wohnhaft in Edina, Minnesota. Sie hat hier in Miami mit zwei College-Freundinnen ein verlängertes Wochenende verbracht.«
»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte Pendergast.
»Ein Tellerwäscher, der in einem Restaurant mit Zugang zur Gasse arbeitete.« Sandoval hatte die lustige Angewohnheit, sich mit dem Zeigefinger über die Oberlippe zu streichen, als wollte er seinen nicht vorhandenen Schnauzer glätten. Jetzt zeigte er mit dem Finger auf eine recht schmuddelige Tür neben einem Müllcontainer. »Die Freundinnen waren allerdings nicht weit weg – sie sind vier, fünf Minuten danach hier eingetroffen.«