Rasch sortierte Pendergast die Unterlagen zu zwei kleinen Stapeln, dann setzte er sich an den Tisch, zog einen Stapel zu sich heran und fing an, ihn schweigend durchzusehen. Coldmoon machte derweil einen Rundgang durchs Zimmer, inspizierte die ramponierten Brettspiele, die Regale mit den Taschenbüchern und den anderen Krempel zum Zeit-Totschlagen, den man in derartigen Motels fast immer vorfand. Als er die Küchenschränke durchstöberte, freute er sich, auf einem der Regale einen elektrischen Wassertopf zu finden.
Im selben Moment kam der Manager herein. »Das Zimmer ist fertig«, sagte er. »Möchten Sie es sich ansehen?«
»Na klar«, sagte Coldmoon und schnappte sich wahllos ein Taschenbuch, den Wassertopf und seinen Teil der Akten.
Pendergast las, ohne den Kopf zu heben, weiter in seinen Unterlagen. »Ich komme später nach, danke.«
Der Manager öffnete die Tür zu 101, und Coldmoon betrat das Zimmer. Es sah einigermaßen sauber aus – Coldmoon war da nicht wählerisch. Der Manager wünschte ihm eine gute Nacht. Nachdem er seinen Rucksack und die Windjacke auf den Boden geworfen hatte, legte Coldmoon dankbar sein Holster mit der Dienstwaffe ab und ließ beides auf eines der Betten fallen. Er stöpselte den Wasserkocher in eine Steckdose ein, um sich zu vergewissern, dass er funktionierte. Zwar hatte er die Ramen-Nudeln als Abendessen mitgenommen, aber die konnten warten – was er jetzt brauchte, das war Koffein. Er füllte den verbeulten Kocher mit Wasser, brachte es zum Kochen und gab eine Handvoll Kaffeemehl hinein. Dann schaltete er ihn herunter, bis das Wasser nur noch köchelte, nahm sich die Unterlagen und die Twinkies und legte sich auf das freie Bett. Seufzend schob er sich die Stiefel von den Füßen.
Es war zwei Stunden und drei Packungen Twinkies später, als er hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Dann erschien Pendergast in der offenen Tür. Er trat ein, schloss die Tür hinter sich, blieb stehen. Er blickte sich im Zimmer um, auf die Doppelbetten mit den fleckigen Überdecken, auf die vergilbte, an mehreren Stellen mit Buntstift-Kritzeleien versehene Tapete, auf das winzige Bad mit dem einen Handtuch – und dann sah er zu Coldmoon, der in Socken auf dem Bett lag, Taschenbuch auf den Oberschenkeln, eine unordentliche Sammlung von Fotokopien um sich herum verstreut. Pendergasts Nasenflügel bebten leicht.
»Da ist er wieder.«
»Wer?«
»Dieser komische Geruch. Irgendwas zwischen angebranntem Zigarettenfilter und Rohrreiniger.«
Coldmoon schnüffelte. Das waren nicht seine Füße – wenigstens glaubte er das nicht. »Sie meinen den Kaffee?«
»Kaffee?«
Mit einem Nicken deutete Coldmoon Richtung Wasserkocher. »Kaffee. Ich habe mir Kaffee gemacht, gleich als ich reingekommen bin.«
Pendergast blickte zum Wasserkocher und wedelte mit der Hand durch die Luft, als wollte er sie reinigen. »Leider haben Sie das Wasser kochen lassen, und jetzt ist der Kaffee ungenießbar.«
»Na ja, so bereite ich ihn eben zu. Ich lass ihn ein, zwei Stunden lang simmern.« So hatten Coldmoons Vater und Großvater und Urgroßvater Kaffee zubereitet, und nur so schmeckte er ihm. Als er im Pine Ridge Reservat aufwuchs, hatte immer ein angestoßener Emaille-Topf mit Kaffee auf dem mit Holz befeuerten Herd geköchelt. Wenn nötig, wurde weiteres Kaffeemehl hineingegeben und zusätzliches Wasser aufgegossen. Die Vorstellung, Kaffeefilter oder einen Kaffebereiter zu verwenden, fand Coldmoon lächerlich. Seiner Meinung nach schmeckte Kaffee erst dann richtig gut, wenn das Kaffeemehl mindestens eine Woche lang gezogen hatte.
Pendergast schüttelte sich. Als er sich wieder umblickte, huschte ein gewisser Ausdruck über sein Gesicht, fast zu schnell, als dass Coldmoon ihn bemerkte. Kurz darauf wirkte Pendergasts Miene wieder gleichgültig. Er zog den Reißverschluss herunter, hängte den Parka an einen der in die Tür gebohrten Haken und setzte sich schließlich auf das andere Bett, auf das Coldmoon seine Dienstwaffe geworfen hatte. Zu Coldmoons riesengroßer Verblüffung griff Pendergast nach dem Holster und zog, was noch erstaunlicher war, die Pistole heraus.
»Browning Hi-Power«, sagte er und wiegte Coldmoons 9-Millimeter-Pistole. »Gut ausbalanciertes Gewicht. John Brownings letzter Entwurf vor seinem Tod, glaub ich. Was die Funktionalität betrifft, unterscheidet sich die Waffe gar nicht so sehr von meiner Les Baer.« Er befingerte den Verschluss, und das geladene Magazin glitt auf die Handfläche seiner linken Hand. »Offenbar wurde sie viel benutzt. Ein Familienerbstück?«
Die Browning hatte in der Tat Coldmoons Großonkel gehört, er hatte sie während des ganzen Zweiten Weltkriegs getragen. Aber nicht daran dachte Coldmoon. Auf einmal empört, setzte er sich auf, sodass etliche der Unterlagen auf den Boden fielen. Die Waffe von jemandem, vor allem die Schusswaffe eines Gesetzeshüters, war sein persönlichster Besitz. Niemand sonst durfte sie anfassen – und bestimmt nicht, ohne zu fragen und auf diese lässige Art und Weise.
»Was machen Sie da?«