Читаем На меже меж Голосом и Эхом. Сборник статей в честь Татьяны Владимировны Цивьян полностью

Dass die Entdeckung der mit allerlei Dingen gefüllten näheren Räume in aller Regel derjenigen der entlegeneren Räume der Stadt, ihrer Umgebung und der gesamten Welt vorausgeht, diese natürliche Ordnung tritt in der Anordnung der einzelnen Miniaturen der Berliner Kindheit außer Kraft.

Dies ist nicht verwunderlich, hat sich doch Benjamin in seinem Vorwort zur letzten Fassung der Berliner Kindheit gegen jegliche Erwartungen des Lesers an eine chronologische Narration verwahrt. [183] Bedeutsamkeit gewinnt für Benjamins Erinnerung statt einer “Kontinuität der Erfahrung” die “Tiefe der Erfahrung” des Kindes, welches die Dinge erkennt und sie buchstäblich entdeckt. Und diese Dinge, die sich vor Benjamin auftaten, als er noch Kind war, erweisen sich für ihn nun, da er das Kind nicht mehr ist, als ein Schlüssel zur Tiefendimension der vergangenen Erfahrung, in der die Zukunft bereits potentiell enthalten ist. Benjamin ergründet seine Kindheitserfahrung, um in den Dingen, die sich dem Kind entdeckten, Vorzeichen der Zukunft zu entdecken. Er unternimmt daher nicht einfach eine Reise in die Vergangenheit – so wie es das traditionelle Genre der Memoiren vorsieht —, sondern zugleich eine Reise in die Gegenwart, als diese noch Zukunft war. [184]

Von der Verwandlung früher Vorzeichen in spätere Zeichen gibt das Kapitel “Der Strumpf” eine besonders schöne Anschauung. [185] Der Text erzählt von der Kommode, gegen deren Widerstände das Kind so lange ankämpft, bis die Kommodentür ihm “entgegen schnappt”. Das Kind “schafft sich bis in ihren hintersten Winkel Bahn”, um von dort ein eingerolltes Strumpfpaar hervorzuholen und sodann in dessen Inneres “die Hand so tief wie möglich zu versenken”:

Es war “Das Mitgebrachte”, das ich immer im eingerollten Innern in der Hand hielt, was mich in ihre [der Kommode] Tiefe zog. Wenn ich es mit der Faust umspannt und mich nach Kräften in dem Besitz der weichen, wollenen Masse bestätigt hatte, begann der zweite Teil des Spieles, der die Enthüllung brachte. Denn nun machte ich mich daran, “Das Mitgebrachte” aus seiner wollenen Tasche auszuwickeln. Ich zog es immer näher an mich heran, bis das Bestürzende sich ereignete: ich hatte “Das Mitgebrachte” herausgeholt, aber “Die Tasche”, in der es gelegen hatte, war nicht mehr da. [Der Strumpf, Berliner Kindheit

, GS , VII.1, 416—417]

Der Text führt vor, dass sich das Geheimnis des Strumpfes nicht mit einem Mal, sondern im Zuge einer serialen Bewegung entdeckt, in einem sich immer weiter verschachtelnden Raum, dessen Inneres sich in das Außen eines weiteren Inneren verwandelt. Das Eindringen in das Innere der Dinge und dessen Bloßlegung, d. h. dessen Entdeckung, verfügen als äußerlich verschiedene Handlungen über eine gemeinsame Sinnpotenz: die Erkenntnis. Das Kind findet im Strumpf, den es auswickelt, diesen selbst und die Lehre der Auswechselbarkeit von Außen und Innen. “Die Tasche”, die “Das Mitgebrachte” enthalten hatte, entpuppt sich als ihr eigener Inhalt. Und diese kindliche Lehre wendet sich in die spätere poetologische Erkenntnis, dass die Form des Kunstwerkes sein Inhalt ist , und dass daher dessen Analyse in statischen Oppositionspaaren problematisch erscheint:

Nicht oft genug konnte ich die Probe auf diesen Vorgang machen. Er lehrte mich, daß Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes dasselbe sind. Er leitete mich an, die Wahrheit so behutsam aus der Dichtung hervorzuziehen wie die Kinderhand den Strumpf aus “Der Tasche” holte. [Der Strumpf, Berliner Kindheit

, GS , VII.1, 417]

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