Als deutsche Truppen am 3. August beginnen, durch Belgien gegen Frankreich vorzugehen, stellt London Berlin ein Ultimatum und verlangt, die Truppen unverzüglich aus Belgien zurückzuziehen. Deutschland kann auf den Durchmarsch durch das neutrale Land jetzt allerdings nicht mehr verzichten und setzt den Aufmarsch fort. Dem folgt am Tag darauf, am 4. August, die Kriegserklärung Englands an das Deutsche Reich.
England und Deutschland haben sich gegenseitig, was die belgische Neutralität betrifft, in den letzten sieben Tagen vor dem Kriegsbeginn je einmal eine Brücke zum Frieden gebaut. Doch Deutschland wollte ohne Englands
Neutralitätserklärung seinen militärischen Vorteil gegenüber Frankreich nicht verlieren, und England wollte zum Schluß nicht auf seine Chance verzichten, an einem Kriege gegen Deutschland teilzunehmen. So wird aus der serbisch-
österreichischen Auseinandersetzung auf dem Balkan in nur fünf Wochen ein europaweiter Krieg.
51 Stegemanns, Seite 366
52 Grenfell, Seite 25
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Wie groß die Skrupel der deutschen Reichsregierung sind, Belgiens Neutralität zu verletzen, drückt Reichskanzler von Bethmann Hollweg am 4. August vor dem Reichstag aus:
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Die Kriegsschuld 1914
Deutschland verfolgt 1914 keine eigenen Kriegsziele. Es hat allerdings durch Kaiser Wilhelm II. frühe und bedingungslose Rückendeckung für Österreich zum Kriegsausbruch beigetragen. Doch nach dieser ersten unbedachten Äußerung von Bündnistreue versuchen Kaiser und Regierung nacheinander erst die Russen, dann die Franzosen und zum Schluß die Briten von einem Kriege miteinander abzubringen. Rußland will nicht demobilisieren. Frankreich lehnt es ab, sich mit Deutschland auf Gegenseitigkeit in Ruhe zu lassen, und England denkt nicht daran, Deutschland für die Schonung Belgiens Frieden zuzusichern.
Die deutsche Kriegserklärung an die Russen ist die Konsequenz des
vergeblichen Versuchs, Rußland zur Mäßigung zu zwingen. Die
Kriegserklärung an Frankreich und der Bruch der belgischen Neutralität sind die fast zwangsläufigen Folgen des ersten Schrittes gegenüber Rußland. Die Gründe, die Deutschland für den Ersten Weltkrieg liefert, liegen tiefer. Es sind dies die Übernahme Elsaß-Lothringens 1871, die Wirtschafts- und
Handelsexpansion, das Flottenbauprogramm, die Bagdadbahn und die deutschen Erdölforderkonzessionen in dem Land, das heute Irak heißt.
Rußland setzt 1914 bewußt auf Krieg. Innerstaatliche Probleme, die Chance bei einem Sieg den erhofften Zugang zum Mittelmeer zu gewinnen und das angemaßte Patronat über alle Slawenvölker, verleiten die russische Regierung, Serbien offen gegen Österreich-Ungarn zu unterstützen, mobil zu machen und ohne Warnung oder Kriegserklärung in Deutschland einzumarschieren.
Frankreichs Kriegsziel seit 1871 ist, sich Elsaß-Lothringen zurückzuholen. Es schafft vor dem Krieg diplomatisch das, was Deutschland aus einem Mangel an Einsicht und Vermögen unterläßt. Frankreich sucht sich Verbündete für eine Auseinandersetzung, die sich irgendwann in Zukunft – so nimmt man in Paris an – mit dem Deutschen Reich ergeben wird. Frankreich stellt – wie man das nennt – die Verbündeten zur Schlacht. Der französische Bündnispolitik wohnt 53 Binder, Seite 62
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eine Sprengkraft inne, die 1914 explodiert. Frankreich nimmt Deutschland mit dem Französisch-Russischen Zweibund so in eine Zange, daß das Deutsche Reich bei Spannungen und Kriegsgefahr mit Frankreich oder Rußland gezwungen wird, militärisch den ersten Schritt zu tun, wenn es dem Risiko des eigenen Untergangs mit einiger Chance auf Erfolg entgehen will. Frankreichs Zange und Deutschlands Zugzwang wären im Falle einer Krise wie 1914 nur zu lösen, wenn Frankreich oder Rußland dann erklärten, daß sie nicht zu den Waffen greifen wollten. Im Sommer 1914 aber wollen weder Frankreich noch Rußland Frieden halten. Beide haben ihre „Beute“ fest im Auge. Frankreichs Zusage an die russische Regierung im Jahre 1912, es in jedem Falle militärisch zu unterstützen54