Deutschland verliert mit dem Versailler Vertrag eine nicht geringe Zahl von deutsch bewohnten Regionen an den Rändern des alten Deutschen Reichs. Österreich bleibt nur als Rumpf des Habsburger Reichs mit dem deutschsprachigen Kern des früheren Vielvölkerstaats erhalten. Das neue Polen übernimmt die Herrschaft über zwei Millionen Deutsche. Zur neugeschaffenen Tschechoslowakei gehören über dreieinhalb Millionen Deutsch-Böhmen, die sich seit Anfang des Jahrhunderts Sudetendeutsche nennen. Zum Versailler Erbe gehört auch die Räumung einer Reihe deutscher Grenzregionen von deutschem Militär.
Im Nachkriegsdeutschland und in Nachkriegsösterreich versuchen Parlamente und Regierungen seit 1919, die Hoheit im eigenen Lande wiederzugewinnen, das Selbstbestimmungsrecht des Volkes durchzusetzen und die Verteidigungsfähigkeit nach außen wieder aufzubauen. Die Auseinandersetzungen um die von den Siegern hinterlassene Ordnung prägen die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, ohne daß sich wesentliches tut. Die Bemühungen des Deutschen Reichs um die Verteidigungsfähigkeit und die Weigerung der Sieger, ihren in Versailles eingegangenen Verpflichtungen zur Abrüstung der eigenen Armeen nachzukommen, sind einem späteren Kapitel dieses Buches vorbehalten. Doch es sei hier schon erwähnt, daß Briten, Franzosen, Polen, Tschechen, Belgier und Italiener den Versailler Versuch, die Nachkriegsordnung in eine europaweite Abrüstung einzubetten, selber ruinieren, ehe Deutschland 1933 damit anfängt,
„die Fesseln von Versailles“ abzustreifen.
Die Sieger versäumen es in den 20er Jahren, die Versailler Ordnung von sich aus so nachzubessern, daß Deutschland, Österreich und Ungarn damit hätten leben können. Sie überlassen es statt dessen den drei besiegten Ländern, dies selbst zu tun. So werden das Saarland wieder eingegliedert, das Rheinland mit deutschem Militär besetzt und Österreich, die Sudetengebiete und das Memelland an Deutschland angeschlossen. Nichts davon ist ein freiwilliges Geben der Siegerstaaten. Es ist vielmehr der erst sanfte und später harte Druck aus Deutschland, der die Dinge ändert. Doch der Krug geht – wie das Sprichwort sagt – so lang zu Brunnen, bis er bricht. Die Sieger, die nicht von sich aus geben, sondern die nur gezwungenermaßen nachgeben, fühlen mit der Zeit, daß ihnen der Sieg von 1918
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durch die Finger rinnt. Als Deutschland unter Hitler 1939 die Tschechei ihrer Selbständigkeit beraubt und zum Protektorat erklärt, zerbricht der Krug, noch ehe die letzten Schäden von Versailles ganz beseitigt sind. Als Deutschland die Tschechei besetzt, drängt sich den Siegern eine neue Perspektive auf. Sie sehen die Rheinlandbesetzung und die Anschlüsse Österreichs und der Sudetengebiete in der Rückschau als den langen Anlauf Deutschlands erst für eine Vormachtstellung in Europa an und dann sogar für Deutschlands Weltherrschaft1. Die Angst der Sieger davor verhindert 1939 den Anschluß Danzigs und die Lösung der Transitwegefrage durch den Pomerellen-Korridor im Einvernehmen zwischen dem neuen Polen und dem Deutschen Reich. So ist der Blick auf die Jahre von 1935 bis 1939 unumgänglich, wenn man verstehen will, wieso der Streit um Danzig, um den Anschluß einer einzigen deutschen Stadt, so schnell und überhaupt zu einem neuen Weltkrieg führt.
Die Volksabstimmung an der Saar