Ansonsten verhandelt Kanzler Schuschnigg in aller Eile mit den Führern der bisher verbotenen Parteien und der aufgelösten Gewerkschaften, um sie für Wahl-33 Ländergesetzblatt für Oberösterreich vom 10. März 1938
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aufrufe gegen einen Anschluß zu gewinnen. Als Preis verlangen die so plötzlich angesprochenen Führer, daß ihre Parteien unverzüglich wieder zugelassen werden, und sie fordern, daß ihre zu Tausenden in den „Anhaltelagern“ inhaftierten Parteimitglieder endlich freigelassen werden. Doch Dr. Schuschniggs getürkte Volksabstimmung bleibt nicht ohne Widerspruch.
Innenminister Seyß-Inquart und ein weiteres Mitglied der Regierung, Minister Glaise-Horstenau, teilen ihrem Kanzler unverzüglich mit, daß das Anberaumen dieser Wahl ohne vorherige Anhörung des Kabinetts verfassungswidrig ist, und daß nicht hingenommen werden kann, daß allein die regierende Vaterländische Front die Wahlen überwacht und dann zum Schluß die Stimmen zählt. Die zwei Minister verlangen die Verschiebung der Volksabstimmung auf einen späteren Zeitpunkt, damit die Wahlen vorbereitet werden können. Bundeskanzler Schuschnigg lehnt Seyß-Inquarts und Glaise-Horstenaus Bedenken und Forderungen ab.
Tags darauf wiederholt Seyß-Inquart seinen Einspruch in einem Brief an Kanzler Schuschnigg, der zurückschreibt, daß es bei der Wahl am nächsten Sonntag bleibt. Bis dahin sind es nun nur noch drei Tage.
Am 11. März, nach einer weiteren Nacht, versuchen die Minister Seyß-Inquart und Glaise-Horstenau noch einmal, Schuschnigg umzustimmen. Sie geben zu bedenken, daß es bei dem überhastet angesetzten Wahltermin und bei den bisher verfugten Wahlbedingungen zu Gewalt im Lande kommen könnte. Schuschnigg beharrt auf seiner Wahl am Sonntag in zwei Tagen. Darauf schicken die zwei Minister in ihrem und im Namen anderer Kabinettsmitglieder noch am späten Vormittag ein Ultimatum an den Kanzler. Die sechs Bedingungen, die dieser Brief enthält, sind
1. Eine neue Volksabstimmung wird innerhalb einer Frist von vier Wochen abgehalten. Sie wird im Einklang mit Artikel 65 der Bundesverfassung stehen.
2. Mit der technischen Durchführung dieser Volksabstimmung wird der Innenminister Dr. Seyß-Inquart betraut.
3. Die Zusammensetzung der Wahlkommission soll so erfolgen, daß in jeder einzelnen ein Vertreter der Nationalsozialisten seinen Sitz hat.
4. Die Möglichkeit der Wahlpropaganda soll allen Parteien, also auch den Nationalsozialisten, zugestanden werden.
5. Für den Fall der Ablehnung der obigen Bedingungen geben die beiden Minister und die sonstigen nationalen Funktionäre ihre Demission bekannt und lehnen jede Verantwortung für das weitere Geschehen ab.
6. Diese Bedingungen müssen noch heute, bis spätestens 13 Uhr angenommen werden.“34
Als Schuschnigg dieses Schreiben liest, bleibt ihm nur noch eine Stunde zur Entscheidung. Die Frist ist unannehmbar kurz, doch der österreichische Innenmini-34 Bénoist-Mechin, Band 5, Seite 248
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ster verlangt von seinem Kanzler hier nicht mehr, als daß die Wahl nach Gesetz und Recht und mit gleichen Chancen für alle politischen Parteien abgehalten wird. Nach zwei Stunden läßt Kanzler Schuschnigg den Minister wissen, daß man zwar über die Rahmenbedingungen der Wahl, jedoch nicht über eine Wahlverschiebung sprechen könne. Die Volksabstimmung fände, wie einmal festgelegt, am Sonntag in zwei Tagen statt. Nun gibt Seyß-Inquart alle weiteren Versuche auf. Er wendet sich direkt vom Kanzleramt im Ballhaus telefonisch an Minister Göring in der deutschen Reichskanzlei und fragt um Rat.
Die Wiedervereinigung
In Deutschland hat man die Turbulenzen in Österreich seit dem 9. März verfolgt.