Die Abessinien-Krise schwelt und brennt von Wal-Wal im Dezember 1934 bis zur Eroberung Addis Abebas durch die Italiener im Mai 1936. Im Frühjahr und Sommer 1935 verlegt Italien 170.000 Mann Alpenjäger, Infanterie und Kavallerie an die Grenzen Abessiniens. England, das den Machtzuwachs Italiens in Afrika nicht dulden will, zieht eine Flotte von 134 Kriegsschiffen im Mittelmeer zusammen und Premierminister Mac Donald erklärt, die Welt befinde sich am Rande eines Krieges wie im Jahre 1914. Die italienische Presse reagiert empört auf Englands Veto-Haltung und erinnert an die gebrochenen Versprechen von 1915 und an Englands eigene Kolonialerwerbungen in Indien und jüngst erst in Oranje und Transvaal.
Am 3. Oktober 1935 marschieren Italiens Truppen in das noch freie Abessinien ein.
England mobilisiert den Völkerbund. Knapp 50 Mitgliedsstaaten erklären Italien zum Aggressor und verhängen zur Strafe ein Embargo und Sanktionen. Deutschland, das nicht zum Völkerbund gehört, nutzt die Gunst der Stunde, um Italien aus der Stresa-Front herauszubrechen. Hitler bietet Mussolini vier Millionen Tonnen Steinkohle, die die stornierten Lieferungen aus England für geraume Zeit ersetzen.
Nun kommt Frankreich in Bedrängnis. Es braucht sowohl England als auch Italien gegen Deutschland, das seit einem Jahr erkennbar seine Wehrmacht wieder aufbaut. England läuft seit dem Flottenabkommen von 1935 auf Entspannungs-kurs mit Deutschland. Und nun zwingt der Druck des Völkerbundembargos auch noch die Italiener, sich den Deutschen anzunähern. England will das Embargo gegen Italien durch einen Erdöllieferstop ergänzen. Frankreich kann das allerdings verhindern und damit auch einen endgültigen Schwenk der Italiener zu den Deutschen. Doch der läßt sich im Jahr darauf nicht mehr verhindern.
Hitlers Kohleangebot zeigt Wirkung. Mussolini läßt den deutschen Botschafter in Rom schon im Januar 1936 wissen, daß er nichts dagegen einzuwenden habe, wenn Österreich ein – allerdings formal selbständiger – Satellitenstaat des Deutschen Reiches werde51. Im März folgt der nächste Schlag für Frankreich. Hitler läßt deutsche Truppen in das Rheinland einmarschieren. Nun verlangt Frankreich beim Völkerbund Sanktionen gegen Deutschland. England, das sich durch den Wiedereinzug deutscher Truppen in das Rheinland nicht gefährdet fühlt, weigert sich nun seinerseits, den Wünschen der Franzosen auf Sanktionen nachzukommen. Die letzten Embargoforderungen Englands gegen Italien und die neuen Sanktionsforderungen der Franzosen gegen Deutschland
überschneiden und blockieren sich zu Gunsten Deutschlands und Italiens.
Am 9. Mai 1936 kapitulieren die letzten abessinischen Truppen, und Mussolini ruft in Rom das „Imperium Romanum“ aus. Der König von Italien Viktor Ema-51 ADAP, Serie C, Band IV, Dokument 485
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nuel III. nimmt den Titel des Kaisers von Abessinien an. Mussolini glaubt jetzt, der deutschen Hilfe nicht mehr zu bedürfen. Er versucht nun, wieder Abstand zu Hitler zu gewinnen und sich statt dessen Frankreich anzunähern. Unmittelbar nach seinem Eroberungskrieg in Abessinien fühlt er sich berufen, die Tschechoslowakei und Österreich gegen Deutschland zu verteidigen. Mussolini entdeckt sein altes Interesse wieder, die Deutschen vom Brenner fernzuhalten, und er läßt der französischen Regierung den Vorschlag übermitteln, einen Militärpakt gegen Deutschland abzuschließen52. Er offeriert Frankreich Durchmarschrechte durch Italien, wenn es Truppen gegen Deutschland in die Tschechoslowakei entsenden möchte. Er verlangt dafür die Waffenhilfe Frankreichs, wenn Italien Österreich gegen Deutschland „schützen“ sollte, und er will die Anerkennung der Herrschaft des Königreichs Italien über Abessinien.
Mussolinis Angebot kommt zur falschen Zeit und läuft ins Leere. Am 4. Juni 1936 bilden Frankreichs Linksparteien eine Volksfrontregierung, die sich sofort den Kampf gegen den Faschismus auf die Fahnen schreibt. Damit ist die franzö-
sische Tür für Mussolini auf Dauer zugeschlagen.
Auch die USA und England weigern sich, die Eroberung Abessiniens durch Italien völkerrechtlich anzuerkennen. So bleibt diese Anerkennung das erste Ziel der römischen Außenpolitik in den nächsten Jahren. Und Mussolini ist nun isoliert. Er muß sich neue Freunde suchen. Österreich ist Italien nach wie vor verbunden, doch das Verhältnis Österreichs zu Deutschland ist seit dem Tod des Kanzlers Dollfuß ruiniert. Eine Entspannung zwischen Rom und Berlin würde durch die deutsch-österreichische Verstimmung sicherlich belastet. So drängt Mussolini den österreichischen Bundeskanzler Schuschnigg, sich mit den Deutschen auszusöhnen. Das Ergebnis dieses guten Rats aus Rom ist das schon er-wähnte „Deutsch-Österreichische Abkommen über die Normalisierung und die freundschaftlichen Beziehungen“ vom 11. Juli 1936. So öffnet Mussolinis Abessinien-Abenteuer auf mittelbare Weise den Weg zum späteren Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich.