Die Ereignisse des Abends – die vom Tod der Tochter bestimmte Atmosphäre in der Wohnung der Monteras, die untröstliche Miene der Mutter des Opfers, die ermüdende Autofahrt durch eine spurenlose Landschaft, das alles kam zusammen. Der normalerweise phlegmatische Coldmoon trat einen Schritt auf Corvin zu, so nahe, dass seine Brust tatsächlich die verschränkten Arme des Türstehers berührte, beugte sich zu dessen Gesicht vor und sagte im Flüsterton: »Haben Sie gerade ›Scheißauto‹ gesagt? Zu meinem
Obwohl der Türsteher größer als Coldmoon war und sicher zwanzig Kilo mehr auf die Waage brachte, bewirkte irgendein Selbsterhaltungstrieb, dass er langsam die Arme herunternahm. Aber er trat keinen Schritt zurück. »Fluchen verstößt nicht gegen das Gesetz«, sagte er mit stockender Stimme.
Während er Corvin noch immer anstarrte, nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, zückte Coldmoon sein Handy. »Solange wir uns überlegen, wie sich das Gesetz auf meine 850 PS starke Super Snake anwenden lässt, werde ich einen Haftrichter anrufen und einen Haftbefehl besorgen. Und dann fahren wir zurück nach Miami, wo wir beide die ganze Nacht gemeinsam in einem kleinen Raum mit sehr hellem Licht verbringen werden.«
»Ich, hm, warten Sie mal. Ich kann das beweisen.« Endlich trat Corvin einen Schritt zurück und griff in eine der Vordertaschen seiner Jeans. Er zog ein Blatt Papier hervor, faltete es auseinander und hielt es Coldmoon hin. »Das hier hab ich auf der Heimfahrt gekriegt, in der Nacht, als Felice umgebracht wurde.«
Coldmoon sah sich den Wisch genauer an. Es handelte sich um einen Strafzettel. Den hatte Corvin von der Polizei Cape Coral bekommen wegen überhöhter Geschwindigkeit, zur fraglichen Zeit zwei Nächte zuvor. Der genaue Zeitpunkt, an dem der Strafzettel ausgestellt wurde, war drei Uhr fünfzig.
Coldmoon betrachtete das Knöllchen noch etwas länger, machte mit dem Handy ein Foto davon, blickte Corvin wortlos ins Gesicht, löste die Finger und ließ den Strafzettel fallen, sodass er dem Türsteher auf die Schuhe fiel. Dann stieg er wieder in den Shelby, startete den Motor, fuhr vom Bordstein an und stellte sich mental auf die lange, dunkle, monotone Rückfahrt nach Miami ein.
9
In Wirklichkeit befand sich die Lodge in Katahdin gar nicht in der Nähe des gleichnamigen Berges. Vielmehr lag das Hotel viele Kilometer außerhalb des Baxter State Parks, an einem Ort, der wie der Rand eines endlosen Waldes aussah, nicht weit entfernt von der Interstate. Coldmoon konnte sich kaum eine Gegend vorstellen, die sich mehr von Miami Beach unterschied. In Maine war in diesem Winter viel Schnee gefallen, und obwohl es bereits Ende März war, lag noch immer alles unter Schnee begraben: Briefkästen, Holzschuppen, selbst Autos und Trailer waren kaum mehr als Umrisse unter den Schneehauben. Die einzigen Farbtupfer bildete der Streusand auf den geräumten Straßen, der dem Schnee eine fiese rötliche Farbe verlieh. Die spätmorgendliche Szenerie erinnerte Coldmoon an die langen Winter, die er während seiner Kindheit und Jugend in Porcupine, South Dakota, verbracht hatte.
Er lenkte den Wagen, den sie am Flughafen gemietet hatten, auf den Parkplatz der Lodge. Dieser war nur halbherzig geräumt, und das große Ortsschild, das den Ferienort ankündigte, lag halb verdeckt unter Schneeverwehungen. Insgesamt standen drei Autos auf dem Parkplatz. Eines war ein Streifenwagen der Polizei. Agent Pendergast, der auf dem Beifahrersitz saß, löste den Sicherheitsgurt. »Wollen wir?«
Coldmoon stieg aus, an die eiskalte Luft. 20 Grad unter null, die Windkälte nicht eingerechnet.
Auf dem Flug am Morgen von Miami hierherauf hatten sie wenig gesprochen, und auf der Fahrt vom Flughafen noch weniger. Coldmoon brachte Pendergast auf den neuesten Stand bezüglich seiner Aktivitäten in der vorherigen Nacht – ein Thema, bei dem er nicht besonders gern verweilte. Pendergast seinerseits schilderte kurz, wie er ein zusätzliches halbes Dutzend von Elise Baxters Bekannten und Kolleginnen in Miami und Umgebung ausfindig gemacht hatte. Alle Leute, die er angerufen hatte, hatten Elise Baxter als eine ruhige junge Frau in Erinnerung, deren Selbstmord sie völlig überrascht hatte.
Auf dem tückisch glatten Fußweg gingen sie zum Eingang der Lodge. Pendergast war in einen Parka eingemummelt, in dem er aussah wie das Michelin-Männchen. Coldmoon erkannte den Mantel – ein Canada Goose Snow Mantra, mit Eiderdaunen gestopft und einer mit Kojotenpelz gefütterten Kapuze. Er galt als der wärmste Mantel der Welt und kostete mehr als fünfzehnhundert Dollar. Wo hatte Pendergast in Miami derart schnell einen solchen Parka aufgetrieben? Coldmoon für seinen Teil fühlte sich total wohl in der einundzwanzig Jahre alten Daunenjacke von Walmart, die blank gewetzt und vom häufigen Tragen verschossen und an einigen Stellen mit Klebeband geflickt war.