Aber Beth war zu schnell. Sie hatte ihr Handy bereits hervorgezogen und rief die Uber-App auf. »Es dauert eine Viertelstunde, vielleicht doppelt so lang, um bei diesem Verkehr herzukommen. Du musst dir diesen anderen Laden wenigstens mal ansehen.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, beendete sie die Auftragsvergabe an das Taxi-Unternehmen. Und dann ging sie den Ocean Drive hinauf und steckte das Handy in die Fake Dolce-&-Gabbana-Handtasche zurück.
Wie automatisch ging Jenny hinter ihr her. Aber ebenso schnell, wie die Panik verschwunden war, trat etwas anderes an ihre Stelle: die Übelkeit, die ihr bereits vorhin aufgefallen war. Die jetzt zurückkam, und zwar gewaltig.
Erneut blieb Jenny stehen, schaute sich um und blickte auf die unendlich vielen funkelnden Lichter, die verschwammen, wieder deutlicher zu sehen waren, wieder verschwammen.
»Mädels. Mir geht’s echt nicht gut. Ich glaub, ich muss mich gleich übergeben.«
Aber Beth und Megan gingen weiter, und sie konnten Jenny bei dem Trubel ringsum auch gar nicht hören.
Rasch blickte sich Jenny um. Ringsum neigte sich alles auf eine Übelkeit erregende Weise, und ihr Magen grummelte sekündlich lauter. Unmöglich, dass sie hier vor diesen Menschenmassen ihr Essen wieder von sich gab, aber dieser Speichelfluss, der tief in ihrem Hals entstand – der konnte nur eines bedeuten.
Plötzlich ließ Jennys Magen es nicht mehr zu, dass sie auch nur einen Schritt weiterging. Sie lehnte sich an die nächstbeste Mauer, stützte sich mit einer Hand ab und gab die Sui Mai mit Jakobsmuscheln, die kross geröstete Ente und die Dim sum mit schwarzem Reis wieder von sich. Das ging so weiter und weiter, bis sie nichts mehr bei sich hatte, sondern nur noch trocken würgte.
Langsam verging das furchtbare Gefühl der Übelkeit. Jenny war immer noch angeschickert – und hatte jetzt auch noch Seitenstiche –, aber wenigstens fühlte sie sich wieder wie ein Mensch. Sie holte tief und erleichtert Luft; sie fand es behaglich hier im Dunklen, empfand eine seltsame Zuneigung zum vorübergehenden Ungestörtsein, das die Dunkelheit ihr geboten hatte. Aber Beth fahndete bestimmt schon nach ihr. Als sie sich in Richtung Boulevard umdrehte, fuhr hinter ihr ein leichter Windzug raschelnd in die Müllreste. Sie würde das Uber-Taxi absagen und ihren Freundinnen beweisen, dass sie Party machen konnte wie …
Plötzlich wurde das Geraschel lauter – lauter als jeder Windstoß. Eine Hand legte sich fest auf ihren Mund, ein seltsames Gefühl zog schnell über ihre Kehle, und dann füllte sich ihr Hals jäh mit warmem, sprudelndem, erstickendem Blut.
11
Es war fast halb fünf, als Pendergast in die Lobby zurückkehrte. Er sagte nicht genau, was er im Zimmer von Elise Baxter getan hatte, und Coldmoon fragte auch nicht danach. Allerdings fiel ihm auf, dass Pendergast nach wie vor seinen Parka anhatte – und zwar mit hochgezogenem Reißverschluss. Angesichts der Tatsache, dass in dem Hotel eine gewächshausartige Schwüle herrschte, hatte sich Pendergast ja vielleicht einem ganz besonderen Schwitzhüttenritual unterzogen.
Als er hörte, dass jemand in der Lobby war, trottete Young, der Manager, aus dem Backoffice, fragte, ob sie noch etwas benötigten, drückte erneut sein Bedauern darüber aus, dass er sie nicht unterbringen könne, und erklärte ihnen, wie sie nach Millinocket kämen.
Sie traten hinaus in die bittere Kälte und stiegen in den Mietwagen, Coldmoon setzte sich wieder ans Steuer. Sie folgten Youngs Anweisungen und dem Navi und fuhren Richtung Südosten, auf zunehmend einsamen und schlecht geräumten Straßen. Hin und wieder kamen sie an einer Farm oder einem Gewerbebetrieb vorbei, halb begraben unter Schnee. Es dämmerte bereits, aber Coldmoon machte das nichts aus; die Nacht konnte auch nicht düsterer werden als der Tag.
Vor ihm tauchte ein gelb-rotes Schild auf, das über den Bäumen hervorschaute: der SaveMart, den Sergeant Waintree erwähnt hatte.
Der untere Teil des Schildes fehlte, wie weggeblasen durch die Ladung einer Schrotflinte, sodass die Leuchtstoffröhren zu sehen waren.
»Wir sollten anhalten«, sagte Coldmoon.
Pendergast, der die Selbstmordfotos durchgesehen hatte, hob den Kopf. »Wie bitte?«