»Wir sollten uns etwas zu essen besorgen. Waintree hat uns gewarnt, dass zu dieser Zeit des Jahres womöglich kein Restaurant mehr geöffnet hat.«
»Ah, ja. Natürlich.« Pendergast legte die Fotos beiseite und stieg, so wie Coldmoon, aus dem Wagen.
Sie waren die einzigen Kunden in dem schäbigen kleinen Supermarkt, der kurz davor war, zu schließen. Pendergast wirkte merkwürdig verloren in dem Laden. Im winzigen Bereich mit Obst und Gemüse nahm er sich einen Kopf Salat, drehte ihn mal so, dann so, legte ihn zurück. Er schlenderte einen Gang hinauf und einen anderen herunter, schließlich blieb er vor dem Regal mit Kräutertees stehen.
Mit spitzen Fingern griff er nach einer Packung. »Kokosnuss-Kamille-Passionsfrucht?«
»Was kann ich dafür?« Coldmoon entschied sich schnell: eine Büchse Sardinen, ein Protein-Riegel, ein Fertiggericht mit Ramen-Nudeln, vier Packungen Twinkies und eine Packung mit dem billigsten gemahlenen Kaffee, den er finden konnte. Damit ging er zur Kasse. Pendergast folgte eine Minute darauf, mit leeren Händen.
Als sie wieder ins Auto stiegen, zog Pendergast wieder die Fotos aus der Polizeiakte. Vor allem bei einer Aufnahme schien er zu verweilen, einer Vollbildansicht der Frau, wie sie an der Vorhangstange hing, die eine Seite des Sprunggelenks auf dem Badewannenrand ruhend, der Kopf schief, zerzauste Haare, denen es nicht ganz gelang, die sich vorwölbenden Augen zu verdecken. »Was ist damit?«, fragte Coldmoon.
Es dauerte einen Augenblick, bis Pendergast antwortete. »Ich habe nur nachgedacht.«
»Worüber?«
»Darüber, was Sie gestern zu Pickett gesagt haben – dass es unwahrscheinlich ist, dass Ms Montera und Elise Baxter
»Kommt es Ihnen denn nicht auch so vor? Dass eines der Opfer bewusst ausgewählt wurde?«
»Doch.« Pendergast legte das Foto zur Seite. »Ich stimme Ihnen zu, dass die Wahrscheinlichkeit, dass beide Frauen zufällig ausgewählt wurden, praktisch gleich null ist. Aber es gibt eine dritte Möglichkeit.«
Coldmoon dachte kurz nach. »Sie meinen, dass beide Frauen, nicht nur eine, bewusst ausgewählt wurden?«
»Ja. Und wenn dies der Fall ist, fürchte ich, macht das unsere Arbeit entweder sehr viel leichter – oder aber sehr viel schwieriger.«
Coldmoon hatte sich schon an Pendergasts Buddha-artige Äußerungen gewöhnt. Bislang gab es keinerlei Hinweise darauf, dass Baxters Tod etwas anderes gewesen war als Selbstmord, und auch keine – um ehrlich zu sein –, dass es überhaupt eine echte Verbindung zwischen den beiden Todesfällen gab. Coldmoon brummelte irgendetwas Indifferentes. Er spürte mehr, als er sah, dass der Agent ihn kurz anschaute, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zuwandte.
Auf dem Parkplatz hinter dem
Coldmoon schaute zu, wie Pendergast mit einer Meisterleistung aus kombinierter Überredung, Drohung, Bettelei und Bestechung den Besitzer dazu brachte, ihnen sein eigenes Zimmer zur Verfügung zu stellen: Nummer 101, mit zwei Doppelbetten, einem Farbfernseher und ohne WLAN. »Ich schätze, ich kann bei meinem Cousin Tom unterkommen«, sagte der Mann und steckte ein dickes Bündel gefalteter Geldscheine ein. »Warten Sie in der Lounge, solange ich die Betten mache und meine Sachen woanders verstaue. Es dauert nicht lange.«
Bei der Lounge handelte es sich um einen trostlos wirkenden Raum mit welligem Linoleumboden, Küchenzeile und Poolbillardtisch, der zurzeit nicht genutzt wurde. Der Hotelbesitzer ging los, um das Zimmer zu machen, während Pendergast und Coldmoon sich einem der Tische näherten.
»Teilen wir das Material der Polizei untereinander auf«, sagte Pendergast und tippte auf Waintrees Akte. »Danach können wir unsere Notizen vergleichen.«
»Was gibt es da zu vergleichen? Die Gutachten zur Obduktion und zur Forensik umfassen insgesamt fünf Seiten, die Vernehmungen ungefähr genauso viele, und die Fotos sprechen für sich.«
»Und genau wegen dieser mangelhaften Aktenlage müssen wir – um einen merkwürdigen Ausdruck zu verwenden – ›um die Ecke‹ denken. Die Betrachtung des Materials aus einem frischen, ja willkürlichen Blickwinkel kann durchaus zu unerwarteten Ergebnissen führen.«
Coldmoon widerstand der Regung, den Kopf zu schütteln, und zeigte auf die Mappe. »Nur zu.«