Coldmoon fiel auf, dass der Commander ein klein bisschen förmlich klang und nicht so onkelhaft auftrat wie sonst immer. Vielleicht ärgerte er sich immer noch darüber, wie Pendergast das Fernsehinterview gestern Abend gekapert hatte – auch wenn Pendergast Grove hinterher seine Gründe erläutert hatte, während Pickett über den Handy-Lautsprecher zuhörte. Für Coldmoon ergaben die Argumente seines Partners Sinn. In Anbetracht von Brokenhearts’ psychologischem Profil und dem Umstand, dass er sich an Smithback gewandt hatte, glaubte Pendergast anscheinend, ihn durch eine direkte Ansprache beeinflussen zu können. Und womöglich hatte das ja wirklich funktioniert. Seit Carpenter hatte es keine Morde mehr gegeben – zumindest noch nicht. Sein Bauchgefühl sagte Coldmoon, dass Grove sich am meisten daran störte, dass man ihn im Dunkeln ließ. Schließlich war er der ranghöchste Beamte vor Ort und zuverlässig hilfreich gewesen, indem er die Ressourcen der Polizei Miami für sie arbeiten ließ. Es war ein bisschen unsportlich von Pendergast gewesen, sich plötzlich in einem öffentlichen Appell an Brokenhearts zu wenden, ohne Grove vorher darüber zu informieren.
Dennoch, der Commander schritt auf Pendergast zu, begrüßte ihn herzlich und schüttelte ihm die Hand. »Ihre Message ist angekommen«, sagte er und setzte sich an den Tisch. »Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie noch etwas mehr Arbeit für uns.«
»Ich fürchte, ja. Aber zuerst habe ich da etwas, das ich Ihnen gerne zeigen würde – um Ihre Meinung dazu zu hören.«
Pendergast sah zur Rechtsmedizinerin. »Dr. Fauchet. Ich hatte zwar nicht mit Ihrem Kommen gerechnet, aber ich muss sagen, es ist mir ein Vergnügen.«
»Commander Grove hat mich mitgenommen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
»Nicht im Geringsten, mehr noch, es ist ein glücklicher Umstand. Auch wenn ich fürchte, es könnte Sie von Ihrer Arbeit abhalten.«
»Ich habe Urlaub.«
Pendergast hob die Brauen. »Ach ja?«
»Ja. Nicht, dass ich irgendwohin fahre«, fügte sie rasch hinzu.
Coldmoon hörte dem Wortwechsel genau zu. Fauchet – die kurz angebundene, kompetente junge Gerichtsmedizinerin – verwendete einen Urlaubstag darauf, sich über die Fortschritte in einem Kriminalfall zu informieren? Sie kam ihm seltsam befangen vor. Wenn er’s nicht besser gewusst hätte, würde er annehmen, dass die Frau in jemanden verknallt war. Vielleicht in ihn? Er blickte hinüber und sah, dass sie Pendergast anschaute. Nein, in ihn nicht.
»Ich würde es zu schätzen wissen, auch Ihre Meinung zu hören«, sagte er zu Fauchet, was sie sichtlich freute, aber auch zu verwirren schien.
Er stand auf und schlenderte zur rückwärtigen Wand, wo auf den beiden großen Korkbrettern inzwischen Karteikärtchen, blaue Bindfäden und Fotos angebracht waren. Auf dem linken Brett befanden sich die Karteikärtchen für jeden der drei jüngsten Morde, chronologisch in einer senkrechten Reihe angeordnet. Auf dem anderen steckten je eine Karteikarte für jeden der Selbstmorde/Morde, auf die Brokenhearts verwiesen hatte, dazu die Fotos von den Opfern, deren Kurzlebensläufe sowie Fotokopien seiner Briefe an sie. Eine Reihe parallel verlaufender blauer Fäden verknüpfte jeden der jüngsten Miami-Morde mit derjenigen Karteikarte, die für jenes Grab stand, das mit dem Mord korrespondierte. Unterhalb der drei Karteikarten auf der rechten Seite sah man zwei weitere Karteikarten, die eine für Laurie Winters, die andere für Jasmine Oriol.
Pendergast blickte in die Runde. »Es kommt ein Moment, da jede Ermittlung einen Kipppunkt erreicht. Dank Ihrer Bemühungen –«, er nickte in Richtung Fauchet und Grove, »– glaube ich, dass wir an diesem Punkt angekommen sind.«
Diese recht dramatische Ankündigung erhöhte die Spannung noch, die in dem stickigen Zimmer herrschte.
Pendergast ging Richtung Korkbretter und zog dabei einen goldenen Kugelschreiber aus der Tasche.
»Beginnen wir mit den drei aktuellen Morden: Felice Montera, Jenny Rosen und Louisa May Abernathy alias Misty Carpenter.« Während er das sagte, tippte er mit dem Kugelschreiber auf jede der Karteikarten. »Diese Morde sind verknüpft mit drei Selbstmorden, die elf Jahre zurückliegen: Elise Baxter, Agatha Flayley und Mary Adler.« Erneut tippte er mit dem Kugelschreiber auf die Karteikarten. »Ich habe immer geglaubt, dass diese als Suizide verbrämten Morde für das Verständnis der aktuellen Morde ausschlaggebend sind.«
Mord
Datum
Selbstmord/Mord
Datum
Ort
Felice Montera
19.03.18
Elise Baxter
November 06
Katahdin, Maine
Jenny Rosen
22.03.18
Agatha Flayley
März 07
Ithaca, New York
L. M. Abernathy
25.03.18
Mary Adler
Juli 06
Rocky Mount, North Carolina
Laurie Winters
September 06
Bethesda, Maryland
Jasmine Oriol
Mai 06
Savannah, Georgia
»Aber wie?«, fragte Commander Grove. »Ich meine, die alten Morde/Selbstmorde haben sich über das gesamte Land verstreut ereignet.«