»Dann hat er dich auf eine Trage gezaubert«, sagte Ron,»und ist mit dir neben sich schwebend hoch zur Schule gegangen. Alle dachten, du seist…«
Seine Stimme erstarb, doch Harry hörte ohnehin kaum zu. Er dachte darüber nach, was die Dementoren ihm angetan hatten… er dachte an die Schreie. Er blickte auf und Ron und Hermine sahen ihn so gespannt an, daß er sich rasch überlegte, was er sagen könnte.
»Hat jemand meinen Nimbus mitgenommen?«
Ron und Hermine warfen sich einen kurzen Blick zu.
»Ähm -«
»Was?«, sagte Harry und sah sie abwechselnd an.
»Nun ja… als du abgestürzt bist, wurde er weggeweht«, sagte Hermine zögernd.
»Und?«
»Und er ist – gegen – o Harry – gegen die Peitschende Weide gekracht.«
Harrys Inneres verkrampfte sich. Die Peitschende Weide war ein sehr jähzorniger Baum mitten auf dem Schloßgelände.
»Und?«, sagte er, und vor der Antwort war ihm ganz bange.
»Tja, du kennst ja die Peitschende Weide«, sagte Ron.»Sie – ähm – mag nicht gern belästigt werden.«
»Professor Flitwick hat ihn geholt, kurz bevor du wieder zu dir gekommen bist«, sagte Hermine kaum vernehmlich.
Zögernd langte sie nach einer Tasche zu ihren Füßen, stellte sie auf den Kopf und schüttelte ein Dutzend zersplitterte Holzstücke und angeknackstes Reisig auf das Bett, die letzten Überreste von Harrys treuem, am Ende geschlagenem Besen.
Die Karte des Rumtreibers
Madam Pomfrey beschloß resolut, Harry übers Wochenende im Krankenflügel zu behalten. Er widersprach nicht und klagte auch nicht, doch sie durfte nichts von den kläglichen Überbleibseln seines Nimbus Zweitausend fortwerfen. Das war albern, und er wußte es, denn der Nimbus war nicht mehr zu retten, und doch konnte er einfach nicht anders: Er hatte das Gefühl, einen guten Freund verloren zu haben.
Der Strom der Besucher riß nicht ab, und alle kamen, um ihn aufzumuntern. Hagrid schickte ihm einen Strauß Ringelblumen, der wie ein gelber Kohlkopf aussah, und Ginny Weasley, puterrot angelaufen, tauchte mit einer selbst gebastelten Genesungskarte auf, die mit schriller Stimme zu singen begann, wenn Harry sie nicht unter einer schweren Obstschale zum Schweigen brachte. Das Team der Gryffindors tauchte am Sonntagmorgen wieder auf, und diesmal war auch Wood dabei. Er mache Harry nicht den geringsten Vorwurf, sagte er mit merkwürdig hohler, lebloser Stimme. Ron und Hermine wichen nur nachts von Harrys Bett. Doch was sie auch sagten oder taten, sie konnten Harry nicht aufheitern, denn sie wußten nur die Hälfte von dem, was ihn wirklich beunruhigte.
Keinem hatte er von dem Grimm erzählt, nicht einmal Ron und Hermine, denn wußte, daß Ron panisch und Hermine spöttisch reagieren würde. Tatsache blieb jedoch, daß er jetzt schon zweimal erschienen war, und beiden Erscheinungen waren lebensgefährliche Unfälle gefolgt. Beim ersten Mal war er beinahe vom Fahrenden Ritter überrollt worden; beim zweiten Mal war er von seinem Besen fünfzehn Meter in die Tiefe gestürzt. Würde der Grimm ihn jagen, bis er wirklich starb? Sollte er für den Rest seines Lebens unentwegt nach dem Untier Ausschau halten?
Und dann waren da noch die Dementoren. Immer, wenn Harry an sie dachte, wurde ihm schlecht und er fühlte sich gedemütigt. Alle sagten, die Dementoren seien schrecklich, aber kein anderer brach jedes Mal bei ihrem Anblick zusammen… und niemand sonst hörte im Kopf den Widerhall der Schreie von sterbenden Verwandten…
Denn Harry wußte jetzt, wessen Stimme es war, die er gehört hatte. Er hatte sich ihre Worte wiederholt, immer und immer wieder in den nächtlichen Stunden im Krankenflügel, in denen er wach lag und auf die hellen Streifen starrte, die das Mondlicht an die Decke warf. Wenn sich die Dementoren näherten, hörte er die letzten Momente im Leben seiner Mutter, ihre Versuche, ihn, Harry, vor Lord Voldemort zu schützen, und Lord Voldemorts Gelächter, bevor er sie ermordete… Harry döste ein und schreckte immer wieder hoch, sank in Träume voll feuchtkalter, verrotteter Hände und grauenerfüllten Flehens, er schreckte auf und kam nicht von der Stimme seiner Mutter los und wollte sie sich immer wieder in Erinnerung rufen.
Es war eine Erleichterung, am Montag ins lärmende Getriebe der Schule zurückzukehren, wo er gezwungen war, an andere Dinge zu denken, selbst wenn er Draco Malfoys Hänseleien über sich ergehen lassen mußte. Malfoy war ganz entzückt vor Schadenfreude über die Niederlage der Gryffindors. Endlich hatte er sich die Bandagen abgenommen und er feierte diesen Anlaß, indem er Harrys Sturz vom Besen beschwingt nachspielte. Zudem verbrachte er einen Großteil ihrer nächsten Zaubertrankstunden mit Auftritten als Dementor im Kerker. Ron verlor schließlich die Nerven und warf ein großes, glitschiges Krokodilherz auf Malfoy, das ihn im Gesicht traf; daraufhin zog Snape den Gryffindors fünfzig Punkte ab.
»Wenn Snape wieder Verteidigung gegen die dunklen Künste gibt, melde ich mich krank«, sagte Ron nach dem Mittagessen auf dem Weg zu Professor Lupins Klassenzimmer.»Sieh erst mal nach, wer drin ist, Hermine.«