die das Wachsen ihrer Stärke und ihr neues Selbstbewußtsein nicht diskret verbergen, sondern es das Ausland durchaus hören lassen. So wird das Deutsche Reich vor Beginn des Ersten Weltkriegs durch seinen wirtschaftlichen Aufstieg, durch seine Rüstung, durch Mängel in der Bündnispolitik und dazu auch noch durch ungeschickte Reden und Interviews des Kaisers vor dem Ausland in eine unvorteilhafte Lage manövriert. Der nachweisliche Friedenswille des Kaisers und der Reichsregierung werden zu oft von strammen Kaiserreden übertönt. Als Deutschland sich vor Kriegsausbruch so ohne jedes Zögern auf die Seite Habsburgs stellt, argwöhnt man in Paris, Sankt Petersburg und London, daß es Berlin um mehr als nur um den Konflikt in Serbien geht. Man vermutet, daß Deutschland den Krach um Serbien zu eigenen Landgewinnen nutzen will.
Andeutungen oder Hinweise darauf hat es allerdings aus Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg nicht gegeben.
Das Gewirr von gegensätzlichen Interessen
Vor dem Ersten Weltkrieg kreuzen sich die Interessen Rußlands, Serbiens, Frankreichs, Englands, Habsburgs und Deutschlands auf einer ganzen Zahl von Linien.
Rußland wendet sich nach dem verlorenen Krieg in Asien gegen Japan 1904
wieder seinen Möglichkeiten in Europa zu. Der anstehende Zerfall des großen Osmanischen Reiches verleitet, erneut um den freien Wasserweg zum
Mittelmeer zu kämpfen. So ist Rußland interessiert, Konstantinopel und die Dardanellen zu erobern und die Serben bei deren Absicht zu unterstützen, sich zur Adria hin auszudehnen. Rußland fühlt sich außerdem als Schutzmacht aller Slawen und der griechisch-orthodoxen Welt.
Frankreich will die Niederlage von 1870-71 tilgen und Elsaß-Lothringen zurückerobern. Außerdem strebt es danach, militärisch wieder erste Landmacht auf dem Kontinent zu werden.
England empfindet sein Kolonialreich und die von ihm beherrschten Handelswege durch den deutschen Flottenbau gefährdet. Es sieht im Bau der deutschen Bagdad-Bahn und in den deutschen Erdölförderkonzessionen im Irak einen unerwünschten Zugriff auf eine Wirtschaftszone, die es bis dahin für die seine hielt. Die deutsche Erdölförderung bei Mossul und die neue Eisenbahnverbindung dorthin könnte England unterbinden lassen, wenn Serbien in einem Kriege auf der Seite Englands die deutsche Bahntrasse auf dem Balkan unterbrechen würde. Und nicht zuletzt ist Deutschland strategisch Großbritanniens potentieller Gegner Nummer eins, seitdem es Frankreich als erste Macht des Kontinents in fast jeder Hinsicht eingeholt beziehungsweise überrundet hat.
Serbien, seit 1878 ein unabhängiger Staat, will Führungsmacht eines neuen Großreichs auf dem Balkan werden und dazu die kleinen Nachbarländer zu
„Großserbien“ zusammenfügen. Eine großserbische Bewegung außerhalb der 40
offiziellen Staatsgewalt fordert diesen Expansionsgedanken durch Propaganda und wiederholte Terrorakte in Serbiens Nachbarländern. Davon sind auch die Habsburger Gebiete Kroatien und Bosnien betroffen.
Habsburg als Vielvölkerstaat bemüht sich, die Unabhängigkeitsbestrebungen seiner nichtdeutschen Mitgliedsvölker teils durch mehr Autonomie, teils durch Mitbeteiligung an der Zentralgewalt zu unterlaufen. Doch das Vielvölkerstaats-problem ist 1914 nicht gelöst. Habsburg, zu dem auch viele slawische Nationen zählen, kann dabei Auseinandersetzungen mit Rußland, das sich selbst als Schutzherr aller Slawen ansieht, kaum aus dem Wege gehen. Hinzu kommt Konfliktstoff mit den Serben. Die Habsburger Regierung hat dem eigenen Staatsgebiet die zwei ehemals osmanischen Provinzen Herzegowina und Bosnien 1908 formlich angegliedert und sie den Osmanen 1909 mit Kaufvertrag bezahlt. Beide Landesteile waren auf internationalen Beschluß ohnehin seit 30
Jahren von Österreich-Ungarn fremdverwaltet. Mit dieser Landerwerbung ist Serbien die gewünschte Expansion in Richtung Adria verbaut.
Deutschland erlebt zwischen 1871 und 1914 ein rasches Wachstum der Bevölkerung und den Übergang zum Industriestaat. Damit ist es zunehmend auf die Importe von Nahrungsmitteln für die Menschen und von Rohstoffen für seine Industrien angewiesen. So ist das neue Deutsche Reich gezwungen, einen ange-messenen Platz im Welthandel zu suchen, in dem die guten Plätze schon besetzt sind. Die deutschen Bestrebungen, ab 1884 Kolonien zu erwerben, den eigenen Anteil am Welthandel auszubauen, Bergbau- und Erdölförderkonzessionen in Übersee zu kaufen und den Nahen Osten durch Eisenbahnbau für sich zu erschließen, sind in erster Linie verantwortungsvolle Mühen, die Ernährungs- und Erwerbsgrundlage der stark wachsenden Bevölkerung zu sichern. In zweiter Linie sind sie das riskante Unterfangen, sich als eine Großmacht wie England oder Frankreich darzustellen.