Am gleichen 26. August erhält Präsident Daladier Hitlers Brief, in dem er schreibt, daß Deutschland von sich aus keinen Krieg gegen Frankreich eröffnen werde. Daladier und Außenminister Bonnet verfassen eine Antwort, welche die drei bekannten Positionen wiedergibt: Die Bündnistreue Frankreichs zu Polen, die Beteuerung des Friedenswillens und der Vorschlag, mit Warschau zu verhandeln.309 Erstaunlich ist, daß der Coulondre-Vorschlag mit dem Bevölkerungsaustausch in diesem Schreiben mit keinem Wort Erwähnung findet. Ansonsten ist der Brief kaum hilfreich. Präsident Daladier ergeht sich in einer langen Folge von Friedensbeteuerungen, die alle meinen: „Wir Franzosen sind friedlich, und wer den Danzig-Status anrührt, ist es nicht.“ Die französische Regierung denkt fünf Tage vor dem Krieg von sich aus nicht daran, das von ihr in Versailles mitgeschaffene deutsch-polnische Problem, den Status des Freistaates Danzig, zur Disposition zu stellen und Polen zu veranlassen, in dieser Sache einzulenken.
An diesem Tage wird im ostpreußischen Kreis Neidenburg eine polnische Ka-vallerieeinheit bei einem Streifzug durch deutsche Dörfer von den Soldaten einer Königsberger Artilleriebatterie gestellt. 47 Polen fallen im MG-Feuer der dort zum Schutz der deutschen Grenzbevölkerung eingesetzten Batterie.
Sonntag, der 27. August
Fünf Tage vor dem Kriegsausbruch.
In London berät das Kabinett über Hitlers ersten, in sechs Punkten formulierten Vorschlag. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht, daß der für gestern erwartete Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen ausgeblieben ist. Man sieht darin ein Zurückweichen Hitlers vor der eigenen Politik der Unnachgiebigkeit310, statt es als Entgegenkommen zu bewerten. Sobald Dahlems in London eintrifft, wird er hinzugezogen. Die Herren prüfen Hitlers Offerte Punkt für Punkt. Dann wird vereinbart, daß der schwedische Vermittler an Stelle Hendersons mit der englischen Antwort nach Berlin zu Hitler fliegt, dessen Reaktion darauf sofort nach London übermittelt, damit die Londoner Regierung dann erneut beraten kann.
Und es wird beschlossen, daß Henderson erst morgen mit der dann endgültigen und offiziellen Antwort des Kabinetts nach Deutschland folgt. Dieser Modus wird telefonisch von Hitler akzeptiert und Dahlems fliegt nach Deutschland, wo er sofort von Göring in Empfang genommen wird. Es ist inzwischen wieder spä-
ter Abend.
Göring hält die Antwort aus London für nicht in allen Punkten günstig und besteht darauf, sie Hitler alleine vorzutragen und ihm unter vier Augen vom Nutzen der Reaktion aus London zu überzeugen. Die Antwort bezieht sich strikt auf Hitlers Punkte.311 Sie lautet zu Punkt 1, daß England grundsätzlich bereit ist, 309 ADAP, Serie D, Band VII, Dokument 324 (franz. Text) und AA 1939 2, Dokument 460 (deutscher Text)
310 Rassinier, Seite 284
311 Die folgende englische Antwort ist entnommen aus Dahlems, Seite 78 f.
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einen Vertrag mit Deutschland zu schließen, der eine friedliche Entwicklung auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet sichert. In Bezug auf Punkt 2, die Bitte bei der Wiedergewinnung von Danzig und dem Korridor zu helfen, steht die englische Regierung einer Lösung der Frage wohlwollend gegenüber und empfiehlt, hierfür direkte Verhandlungen zwischen Berlin und Warschau. Zu Punkt 3, der deutschen Garantie der zukünftigen Grenzen Polens, besteht die britische Regierung darauf, daß Polens zukünftige Grenzen nicht allein von Deutschland, sondern auch von Rußland, Italien, Frankreich und Großbritannien garantiert werden müssen. Zu Punkt 4, den ausreichenden Garantien für die deutsche Minderheit in Polen, akzeptiert die englische Regierung Deutschlands Forderung und empfiehlt, diese Frage ebenfalls durch direkte Verhandlungen mit Polen zu lösen. Den in Punkt 5 erhobenen deutschen Anspruch auf die spätere Rückgabe der früheren deutschen Kolonien oder auf Ersatz lehnt die englische Regierung zunächst ab, stellt aber spätere Verhandlungen dazu in Aussicht. Das Angebot in Punkt 6, das britische Weltreich im Bedarfsfall militärisch zu unterstützen, wird gleichfalls abgelehnt.
Görings Zweifel an Hitlers positiver Reaktion sind nicht ganz unberechtigt.
Schließlich trifft der Vorschlag, die Danzig- und Korridor-Sache deutsch-polnisch zu verhandeln, den wunden Punkt der deutschen Position. Außenminister Beck in Warschau ist in der Danzig-Transitfrage seit Oktober vorigen Jahres nicht einen Schritt auf Deutschland zugegangen. Die britischen und franzö-