Am gleichen Tag liegt in London der nächste Bericht aus Warschau vor. Botschafter Kennard teilt mit, wie er die Dinge sieht:
„Soweit ich das beurteilen kann, sind die deutschen Behauptungen über
die massenhaften Mißhandlungen an Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen grobe Übertreibungen, wenn nicht sogar Fälschungen. ... Jedenfalls handelt es sich dabei schlicht und einfach um deutsche Provokationen im Zusammenhang mit einer Politik, die die zwei Nationen
313 Benoist-Méchin, Band 7, Seiten 433 ff
479
gegeneinander aufgebracht hat. Ich nehme an, daß dies geschieht, um (a)
Kriegsstimmung in Deutschland zu entfachen, (b) die öffentliche Meinungim Ausland zu beeindrucken und (c) entweder Niedergeschlagenheit oderoffensichtliche Aggressionen in Polen zu provozieren. ...Es gibt keine Anzeichen, daß die zivilen Behörden die Kontrolle über Zustände in Polenverloren haben. ...“ 314
Montag, der 28. August
Vier Tage vor dem Kriegsausbruch.
Frühmorgens 1.30 Uhr: Göring kommt von Hitler zurück und hat mit der Dahlerus-Botschaft Erfolg gehabt. Hitler hat wider Görings anfängliche Befürchtungen Englands Standpunkt respektiert. Göring berichtet trotz der Schlafenszeit sofort Dahlems über Hitlers Kommentare zur aus London überbrachten Antwort.
„Mit Freude“, so Marschall Göring „begrüße Hitler Englands Wunsch,
mit Deutschland zu einer friedlichen Abmachung zu gelangen. Der Reichskanzler würde größten Wert darauf legen, ein wirkliches Bündnis zwischenGroßbritannien und Deutschland zustande zu bringen und nicht nur einenVertrag. Hitler respektiere Englands Entschluß, seine Garantie für Polenaufrechtzuerhalten und ebenso die englische Forderung nach internationaler Garantie der polnischen Grenzen durch die fünf Großmächte. Er akzeptiere auch den englischen Vorschlag, die Fragen Korridor und Danzigendgültig durch direkte Verhandlungen zwischen Deutschland und Polenzu regeln. Hitler habe weiter den Vorschlag der englischen Regierung gebilligt, die Entscheidung über die Kolonien bis zur allgemeinen Demobilisierung und Normalisierung der Lage zu vertagen. Er habe auch seinerÜberzeugung Ausdruck gegeben, daß die Engländer bei den damit zusammenhängenden Verhandlungen ihr Bestes tun würden, um eine befriedigende Lösung herbeizuführen.“ 315Der Friede scheint gerettet. Immerhin gibt Hitler mit seiner Reaktion zwei Dinge zu erkennen. Zum einen will er, der Beck seit dem 5. Januar immer wieder zu Gesprächen über Danzig und die Transitwege eingeladen hat, noch einmal warten. Was noch bemerkenswerter ist, ist zweitens, sein Einverständnis zu einer Garantie der Grenzen Polens durch England, Frankreich, Italien und die Sowjetunion. Dies Einverständnis läßt darauf schließen, daß sein Interesse an der Eroberung des Nachbarlandes Polen relativ gering ist. Falls er trotzdem eine Annexion in den letzten Monaten in Erwägung gezogen haben sollte, ist er jetzt jedenfalls bereit, Polens Existenz auf Dauer zu achten, wenn er dafür die Freundschaft Großbritanniens gewinnen kann.
314 British War Bluebook, Document 55
315 Dahlems, Seiten 82 f
480