Vielleicht deckt Hitler mit der Bemerkung auf, daß er im Grunde doch schon seit geraumer Zeit den Krieg mit Polen wollte. Vielleicht ist der Ausspruch auch die Schutzbehauptung eines Mannes, dem etwas mißlungen ist, und der dann behauptet, er hätte es gar nicht anders haben wollen. Oder vielleicht ist es der Ausbruch einer inzwischen angestauten Wut gegen die Haltung Polens, die ihm die Heimkehr Danzigs ohne Blutvergießen und eine Partnerschaft mit Großbritannien verdorben hat: also Krieg als Rache für eine außenpolitische Niederlage Hitlers.
Um 21 Uhr gibt der deutsche Rundfunk Hitlers 16-Punkte-Vorschlag bekannt.
Zwischen 21 und 22 Uhr überreicht Staatssekretär von Weizsäcker die schriftlichen Ausfertigungen des Hitler-Vorschlags nacheinander an die Botschafter Englands, Frankreichs, Japans und an die Geschäftsträger der USA und der Sowjetunion.
Spät abends muß sich die englische Regierung noch einmal um die Presse kümmern. Der DAILY TELEGRAPH hat in seiner Abendausgabe über die Vermittlungstätigkeit der Londoner Regierung zwischen Warschau und Berlin berichtet.
Dabei hat die Zeitung auch erwähnt, daß die polnische Regierung nach Eingang des Verhandlungsangebots aus Deutschland die Generalmobilmachung für die Streitkräfte angeordnet hat, statt das Angebot zu honorieren. Die Abendausgabe des DAILY TELEGRAPH wird beschlagnahmt. Ein Nachdruck, der als
Spätausgabe kommt, läßt die Generalmobilmachung in Polen unerwähnt. Nichts in dieser schweren Krise soll Englands Lesern Zweifel kommen lassen.389
Der Kriegsausbruch
Am 1. September 1939 um 4.45 Uhr früh tritt die Wehrmacht ohne Kriegserklärung zum Angriff gegen Polen an.
General Keitel als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht rät Hitler, den Krieg an Polen zu erklären, doch der „Führer“ lehnt das ab.390 Die Gründe Hitlers mögen operativer oder politischer Natur gewesen sein. Der operative liegt in der Überraschung der angegriffenen Polen. Doch das zählt hier wenig, weil die polnischen Streitkräfte bereits mobilisiert und voll aufmarschiert sind, als der 388 Benoist-Méchin, Band 7, Seite 524, der dort Otto Meißner, Staatssekretär unter Ebert-Hindenburg-Hitler, Hamburg 1950, Seite 518 zitiert.
389 Hedin, Seite 60
390 Keitel, Seite 251
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Krieg beginnt. Der politische mag in der Erfahrung aus dem Ersten Weltkrieg liegen. 1914 hat Deutschland, nachdem zuvor Rußland, Frankreich und England ihre Heere und Flotten mobilgemacht hatten, als erstes Land den Krieg erklärt. Das ist dann in Versailles – neben anderem – als Ausweis der deutschen Kriegsschuld im Sinne des Verursacherprinzips gewertet worden. Das geschlagene Deutsche Reich hat 1919 für diese traditionelle und völkerrechtlich korrekte Handlungs-weise einen hohen Preis bezahlen müssen. Im 20. Jahrhundert sind Kriegserklärungen auch durchaus nicht mehr die allgemeine Regel. Japan zum Beispiel eröffnet 1904 den russisch-japanischen Krieg ohne Kriegserklärung gegen Ruß-
land. Polen tut das gleiche 1920 gegenüber der Sowjetunion. Die USA steigen ohne eine Kriegserklärung in den Vietnamkrieg ein. Die NATO-Staaten eröffnen ihre Luftangriffe 1999 gegen Jugoslawien ebenfalls ohne eine Kriegserklärung.
Auch Hitler beginnt den Krieg nach sechs Monaten fruchtloser Gesprächsversuche mit der polnischen Regierung ohne Kriegserklärung.
Am 3. September folgen England und Frankreich ihrer Bündnispflicht und er-klären ihrerseits den Krieg an Deutschland. Fast das gesamte Commonwealth und einige der französischen Kolonien schließen sich am gleichen Tage an. Am 3. September sind es Australien, Burma, Ceylon, Indien, Jordanien, Kambodscha, Laos, Marokko, Neuseeland, Tunesien und Vietnam. Am 6. folgen die Südafrikanische Union und der Irak und am 10. September Kanada. Chamberlain hat damit sein Versprechen von vor einer Woche wahr gemacht. Der Krieg um die Stadt Danzig und den Korridor ist binnen zweier Tage zu einem Weltkrieg ausgedehnt.
Der Krieg in Polen weitet sich vom ersten Tag an in dreierlei Weise auch auf die Zivilbevölkerung aus. Zum einen wird die polnische Bevölkerung im Kampfge-biet unversehens und ohne deutsche Absicht bei den Gefechten in Mitleiden-schaft gezogen. So kommt es schon am ersten Kriegstag bei einem deutschen Luftangriff gegen eine polnische Division infolge schlechter Sicht zu Bomben-fehlabwürfen auf die Stadt Wielun. Dabei finden etwa 1.200 unschuldige polnische Zivilpersonen den Tod.391 Zum zweiten macht die polnische Bevölkerung
– zum Teil auch das Militär – von Kriegsbeginn an Jagd auf Deutsche, die noch in Polen leben. In einer Welle von Hausdurchsuchungen, Plünderungen, Verhaftungen, Vertreibungen, Mißhandlungen, Vergewaltigungen und Ermordungen müssen über 5.000 dieser polnischen Staatsbürger mit deutscher Muttersprache ebenfalls ihr Leben lassen.392 Das größte Blutbad mit etwa 1.000 Morden findet 391 Die Zahl der Todesopfer von Wielun ist einem polnischen Leserbrief vom 8. August 2001 in der FAZ entnommen.