Der Deutsche Reichstag sieht im Nachsatz „es sei denn mit Zustimmung des Rates des Völkerbunds“ die offene Tür für spätere Zeiten. Mit dieser vagen Aussicht fügen die Abgeordneten des Deutschen Reichstags am 11. August 1919 der Weimarer Verfassung den Artikel 61 an, der lautet:
So spricht die Weimarer Verfassung mit Artikel 61 vom kommenden Anschluß Österreichs, wie 30 Jahre später das Bonner Grundgesetz vom „Beitritt der anderen Teile Deutschlands“ in Artikel 23. Nur fünf Wochen danach, am 22. September 1919, muß der Deutsche Reichstag die Weimarer Verfassung auf Druck der Siegermächte wieder ändern und Artikel 61 streichen.
Der von Bauer und Graf Brockdorff-Rantzau geschlossene deutsch-österreichische Vereinigungsvertrag vom November 1918 wandert, ohne daß ihn die Parlamente in Berlin und Wien je ratifizieren können, als totes Dokument in die Archive. Doch das Gefühl, mit den Menschen in Österreich zusammenzugehören, bleibt den Bürgern und Parteien im Deutschen Reich erhalten. Noch 1932 bezeichnet der Reichstagsabgeordnete und spätere Bundespräsident Theodor Heuss den „großdeutschen Gedanken“ der Zusammengehörigkeit mit Österreich als eine der wenigen Ideen, die die Parteien der Weimarer Republik miteinander tragen23.
Aus der Sicht der Sieger hat das Verbot der deutsch-österreichischen Vereinigung zunächst durchaus einen Sinn. Mit einem angeschlossenen Österreich hätte das besiegte Deutschland seine Verluste an Land und Menschen wieder ausgegli-22 Bernhardt, Seite 31
23 Heuss, Seite LX
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chen. Doch dieses Rechenspiel der Sieger mißachtet ihre selbst aufgestellte Regel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Außerdem soll ein unabhängiges Österreich helfen, Deutschlands Wirtschaft aus den Ländern des Donau- und Balkanraumes fernzuhalten.
Das Nachkriegsösterreich
Die 20er Jahre sind für Österreich arm und bitter. Das wirtschaftliche Netzwerk Habsburgs ist zerschlagen. Die sudetendeutsche Industrie in der Tschechoslowakei und die Landwirtschaftsgebiete Ungarns sind von Österreich abgeschnitten.
Der österreichischen Industrie fehlt umgekehrt der alte Absatzmarkt im Donauraum. Deutschsprachige Beamte und Soldaten strömen in großen Zahlen aus den nicht deutschen Fürstentümern Habsburgs zurück ins Kernland Österreich, ohne daß sich ihnen dort Lohn und Arbeit bietet. Die Lebenshaltungskosten steigen, Nahrungsmittel werden knapp, die Zahl der Arbeitslosen klettert auf 800.000, die erfolglos nach Beschäftigung suchen, und die Auslandsschulden Österreichs sind bald nicht mehr abzutragen. Die sozialdemokratische Regierung unter Dr.
Renner kann die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes nicht lösen und muß 1920 einer Koalitionsregierung aus kirchennahen, sogenannten klerikalen Kräften und Liberalen unter Monsignore Dr. Seipel weichen.
Auch Dr. Seipel und seine Amtsnachfolger können die ökonomischen Probleme der jungen Republik nicht überwinden. Eine Bankenkrise 1928, große Außen-handelsdefizite und die anhaltend zu hohen Auslandsschulden zwingen die österreichische Regierung, neue Lösungswege aufzutun. So betreibt sie die Bildung einer Zollunion mit Deutschland. 1931 versuchen die Außenminister aus Berlin und Wien, eine deutsch-österreichische Wirtschafts- und Zollunion zu gründen, wohl auch mit dem Wunsch von beiden Seiten, daß dies der
Grundstein für eine staatliche Vereinigung sein möge. Die Hoffnung auf spätere Vereinigung mit Deutschland ist in Österreich schließlich ungebrochen, und alle politischen Parteien – außer Monarchisten (Legalisten) und Marxisten – sind sich darin einig und äußern dies auch immer wieder. So erinnert der Führer der Sozialdemokraten Dr. Renner am 12. November 1928 in einer öffentlichen Rede an den Beschluß der Verfassungsväter, Österreich und Deutschland zu vereinen, und erklärt: